Zu Besuch an der Londoner Craven Cottage. Von Kühlschränken, Harry Potter und dem wohl schönsten Stadion der Welt.
Es fühlte sich an, wie der Blick in den Kühlschrank an einem langweiligen
Sonntagnachmittag. Auch beim vierten Öffnen hofft man, dass nun irgendetwas
drin ist, auf das man Lust hat. Vielleicht hat man auch eine Leckerei übersehen
und findet sie nun unverhofft in einer Ecke, versteckt hinter der Butter.
Wir musterten den Imbissstand ein fünftes Mal. Jetzt aber weitaus
kritischer, als wir das noch vor knapp eineinhalb Stunden taten. Der Magen
machte sich langsam bemerkbar und knurrte seinen Frust heraus. Dass Hunger an
der Laune nagt, weiss man nicht erst seitdem es Werbung gibt. Wir entschlossen
uns, einen Hotdog zu nehmen. Es schien uns die vernünftigste Wahl, da es keine
Pommes – oder Chips – gab und sämtliche Alternativen in der Bezeichnung am
Anschlagbrett mit „Pie“ endeten, weshalb sie sich zum Undefinierbaren mauserten.
Als wir uns vorsichtig zum Tresen des Standes tasteten, blickten uns die rund
fünf Angestellten mit jedem Meter erwartungsvoller an. Verständlich, wo wir
doch vermutlich ihre ersten Kunden am heutigen Abend waren. Zumindest konnten
wir bei den vier vorherigen Besuchen keine anderen Gäste ausmachen. Nun standen
wir also davor und orderten zwei Hotdogs. Die gab es dann auch, samt synchronem
Lächeln der fünf in grau gekleideten Mitarbeiter. Das Gefühl, gebraucht zu
werden. Ich verteilte Ketchup auf dem Hotdog, der folglich unter der roten
Masse zusammenzufallen drohte. Ich biss hinein. Es schmeckte grauenhaft.
Es war der einzige Makel der Pilgerfahrt an die Craven Cottage.
Plötzlich taucht sie auf. Unverhofft in einer Ecke, versteckt hinter
einem Wohnquartier. Ich kneife die Augen zusammen, um schärfer sehen zu können.
Als ich die in den Himmel ragenden Flutlichtmasten sehe, gibt es keinerlei
Zweifel mehr, dass wir das Stadion erreicht haben. Es ist gut getarnt. Die rote
Backsteinfassade, welche an die Strasse grenzt, unterscheidet sich kaum zu den
Häusern in der Wohngegend. Scheinbar unendlich reihen sie sich aneinander und
füllen Strasse um Strasse. Als hätte man ein Haus gebaut und es kopiert, um es
anschliessend wieder und wieder aneinander zu setzen. Harry Potter muss in
dieser Gegend wohnen, wenn er nicht gerade Hogwarts unsicher macht, denke ich
mir im Stillen. Da meine Begleitung ein glühender Fan der
Harry-Potter-Geschichten ist, lasse ich meine Feststellung unausgesprochen. Aus
Angst, dass wir die nächsten zwei Minuten über Harry, Ron und Hermine diskutieren,
statt diese Schönheit zu bewundern, die sich vor mir aufbaute. Die Schönheit,
die auf den Namen Craven Cottage hört. Und wie so oft bei Schönheiten, ist auch
in diesem Fall die Intimität der Live-Darbietung unschlagbar. Denn zugegeben,
ich habe mir diese Strasse schon bei Google Earth angesehen, werde aber erst
jetzt richtig in ihren Bann gezogen.
Hinter der langen Backsteinfassade befindet sich der Johnny Haynes
Stand, die Gegentribüne. Links neben ihr liegt die Craven Cottage. Eine alte
Jagdhütte, die vor über 200 Jahren erbaut wurde, weil die gesamte Gegend damals
noch Wald war. Baron William Craven liess sie errichten und fungiert als
Namensgeber der Hütte. Heute nutzt der Fulham FC die Cottage als VIP-Loge, die
Spielerfrauen und verletzte Spieler beherbergt. Ich stehe vor dem Stadion und
betrachte sie. Die Clubbezeichnung ziert die Aussenwand dieses so einmaligen
Relikts aus dem 19. Jahrhundert. „The Fulham Football Club“ steht in weissen
Lettern auf schwarzem Grund geschrieben. Nun halte ich inne und fühle pure Dankbarkeit,
dass die Hütte bis in die heutige Zeit überdauert hat. Eine heutige Zeit, in
der Fussballvereine hochmoderne Betonbauten aus dem Boden stampfen lassen, um
wettbewerbsfähig zu bleiben. Meine Vernunft spricht von einem durchaus legitimen
Vorgang. Mein Herz aber blutet. Es hadert, will nicht wahrhaben, flucht. An
diesem Abend lacht das Herz jedoch.
Nicht nur der Cottage wegen, nein. Die Heimspielstätte vom Fulham FC
bietet an allen Ecken und Enden Hochgenuss für Sympathisanten des Fussballs auf
der Insel. Alle vier Tribünen verfügen über den typisch britischen Charme. Die
Handschrift des Architekten Archibald Leitch ist unweigerlich zu erkennen. Dass
Leitch auch bei heutigen Fussball-Mekkas wie der Liverpooler Anfield Road oder
dem Glasgower Ibrox Park federführend war, überrascht nicht. Das Hammersmith
End, wo sich die treuen Anhänger der Cottagers tummeln, könnte problemlos als
kleinere Version der legendären „The Kop“ an der Anfield Road durchgehen. Nur eben
mit schwarzen Sitzschalen und dem Schriftzug „Fulham“.
Da noch rund zwei Stunden bis zum Anpfiff sind, setzen wir uns in das
einzige Kaffee an der Craven Cottage. Es fährt ein kleiner Bus vor, aus welchem
einige Fulham-Spieler aussteigen. Der 19-malige englische Nationalspieler und
aktuelle Kapitän der Whites, Scott Parker, steigt ebenfalls aus. Maximal ein
dutzend Menschen sind zu diesem Zeitpunkt am Stadion. Parker schreibt zwei
Autogramme, spricht mit einigen und verschwindet dann entspannt in der
Backsteinfassade. Als Beobachter bin ich beinahe versucht von einem familiären
Klima zu sprechen. In der folgenden Stunde bestätigt sich dieser Eindruck. Im
Kaffee, das zwei Stunden vor dem Spiel noch komplett leer ist, scherzen die beiden
Angestellten miteinander. Das Lokal füllt sich in der Folge nur überschaubar.
Eine Stunde vor Spielbeginn findet man im Clubheim des FC Winkeln unwesentlich
weniger Gäste vor. Die Stimmung ist ähnlich. Nicht feierlich, aber ausgelassen
zufrieden. Man trinkt sein Bier, Kaffee oder Tee und orakelt über die
bevorstehenden 90 Minuten.
Bis zum Anpfiff sind es noch gut 50 Minuten, als wir erneut vor der
Cottage stehen. Nun aber mit der Absicht, das Bauwerk von einem anderen
Blickwinkel zu betrachten. Wir wollen rein. Während wir unser Ticket studieren,
um den richtigen Eingang zu finden, schreitet ein hilfsbereiter Ordner ein. Er
überfliegt das Stück Papier und seufzt: „Excuse me, that’s not the game
tonight.“ Mein Gesicht läuft tomatenrot an. Ich versuche meinen Blick
krampfhaft irgendwo fest zu machen, um meiner Verzweiflung nicht allzu grossem
Ausdruck zu verleihen. Der Ordner bleibt streng in seiner Rolle und erklärt,
dass das Ticket für das Spiel in einer Woche gültig sei, nicht aber für die
Partie heute. Inzwischen habe ich meine Augen auf Sarah gerichtet, die ein
verschmitztes Lächeln aufsetzt. Ich verstehe und lächle verlegen. Britischer
Humor. Und familiär noch dazu. Der Ordner weist uns den richtigen Eingang zu.
Anschliessend stehen wir vor einem kleinen Tor, das um die 80 Zentimeter breit
ist. Das Drehkreuz lässt den Eingang auf mickrige 50 Zentimeter schmelzen. In
den USA hätte man, trotz sämtlicher verkauften Tickets, ein nur halbvolles
Stadion. Während ich über zufrieden über meinen eigenen Spruch lache, betrachte
ich mir die Drehkreuze. Rost frisst sich in die schwarze Lackierung. Ich kann
es kaum erwarten, bis mir dieses Stadion seine Geschichten erzählt.
Unverhofft in einer Ecke, versteckt hinter dem Riverside Stand, der Haupttribüne, sieht man die Themse. Sie spiegelt die warme Abendsonne in den Farben rot, orange und gelb. Dass ein Fluss direkt hinter dem Stadion durchläuft, ist eine Rarität, wo doch heutzutage Multifunktionsarenen meist mit grosszügiger Betonfläche umrahmt werden, die für Parkplätze und Fanshops genutzt werden. Ebenso rar sind die Sonnenstunden in London. Englisches Wetter bedeutet eigentlich Wind, Wolken und Regen. Heute scheint die Sonne, der Himmel ist blau.
Unverhofft in einer Ecke, versteckt hinter dem Riverside Stand, der Haupttribüne, sieht man die Themse. Sie spiegelt die warme Abendsonne in den Farben rot, orange und gelb. Dass ein Fluss direkt hinter dem Stadion durchläuft, ist eine Rarität, wo doch heutzutage Multifunktionsarenen meist mit grosszügiger Betonfläche umrahmt werden, die für Parkplätze und Fanshops genutzt werden. Ebenso rar sind die Sonnenstunden in London. Englisches Wetter bedeutet eigentlich Wind, Wolken und Regen. Heute scheint die Sonne, der Himmel ist blau.
Das Stadion ist keine Stunde vor dem Anstoss beinahe gänzlich leer. Ich
gehe mit einem Plastiksack des Fanshops auf Entdeckungstour. Mein Verlangen,
die üppige Trikotsammlung weiter anwachsen zu lassen, musste zwingend
befriedigt werden. Das orange Auswärtstrikot mit der Nummer 8 von Scott Parker
liegt fein säuberlich zusammengefaltet im Sack und schreit förmlich danach in
meinem Schrank neben Sunderlands Lee Cattermole und Augsburgs Tobias Werner
Platz nehmen zu dürfen. Wardrobe of Fame.
Auf der Entdeckungstour findet sich einiges unverhofft Verstecktes, das
jedem Fussball-Romantiker Tränen der Rührung in die Augen treibt.
Ich lasse meinen Blick über die Cottage, hinüber zum angrenzenden
Johnny Haynes Stand schweifen. Während die unteren Sitze mit handelsüblichen
Plastikschalen bestuhlt sind, dominiert im oberen Teil der Tribüne Holz. Vor
meinem geistigen Auge erscheint das Espenmoos. Die beiden Tribünenteile werden
mit einer etwa einen Meter hohen Backsteinwand getrennt, die das Espenmoos aber
gleich wieder vergessen macht.
Die Befürchtung, dass sich auch der Zuschauerauflauf in ähnlichen
Dimensionen bewegt, wie der des FC Winkeln, widerlegt sich erst 15 Minuten vor
dem Spiel. Der Engländer scheint sich in den Pubs noch ein paar Pints zu gönnen,
um dann kurz vor Beginn ins Stadion zu kommen. Seit Anfang Neunziger sind auf
der Insel keine Stehplätze mehr erlaubt. Sich mit frühem Erscheinen eine
passable Ausgangslage in der Platzwahl schaffen, taugt also nicht als
Begründung.
An der Craven Cottage verzichtet man auf kommerziellen Schnick-Schnack
vor Spielbeginn. Keine Kiss-Cam, keine Wettbewerbe. Einzig Maskottchen Billy,
ein Dachs, versucht das Publikum zu animieren. Erwähnenswert ist dabei, dass
Billy über einen eigenen Bodyguard verfügt. Er folgt dem nur mässig elegant
tanzenden Maskottchen auf Schritt und Tritt.
Mittlerweile haben wir und knapp 16'000 andere Platz genommen. Wir
sitzen in der vordersten Reihe, die nur zwei Meter vom Spielertunnel entfernt
ist. Das Spielertunnel ist nicht, wie üblich, zwischen den beiden Ersatzbänken
stationiert, sondern führt aus der Cottage hinaus, vorbei an der Eckfahne aufs
Spielfeld. Mit epischer Musik über geschlagene 15 Minuten versucht man
krampfhaft diesem Spiel eine gewisse Dramatik zu unterlegen, scheitert aber.
Die Protagonisten betreten das Spielfeld. Scott Carson, Gabor Kiraly,
Jermaine Pennant, Tim Hoogland, Bryan Ruiz oder William Kvist. Die Gesichter
sind dem Kenner durchaus bekannt. Der ehemalige Basler Kay Voser steht nicht im
Kader. Direkt vor unseren Augen betreten sie den grün leuchtenden Rasen.
Mittlerweile ist die Nacht hereingebrochen, so dass die Flutlichtmasten hinunterbrennen.
Das Spiel beginnt.
Craven Cottage bietet keinen grossen Fussball, keine atemberaubende
Stimmung. Laut wird es nur, wenn sich das Hammersmith End zu einem „Come on
Fulham“ durchringen kann, das in der Regel nach 20 Sekunden wirkungslos verpufft.
Natürlich ist es nur die zweithöchste Spielklasse, aber Fulham stand 2010 noch
im Europa-League-Endspiel, etablierte sich über Jahre in der Premier League, wo
auch Wigan Athletic, der heutige Gegner, jahrelang spielte. Darüberhinaus ist
es erbitterter Abstiegskampf. Zumindest in der Tabelle. Fulham steht nur zwei
Plätze über dem Strich, Wigan ist gar darunter. Die Partie selbst strahlt wenig
von dieser Brisanz aus. Das viel zitierte Kribbeln findet man hier nicht vor.
Schlimm ist das aber nicht. Es scheint, dass man eher zum Fussball geht, als zu
Fulham. Klar, man unterstüzt die Cottagers, aber der Besuch, das Erlebnis,
steht im Vordergrund. Womöglich ist es auch so, dass sich die Zuschauer noch
immer nicht satt gesehen haben an diesem Bauwerk. Als müsste man immer wieder
kommen, um irgendwo, unverhofft in einer Ecke, eine weitere Leckerei zu finden.
Daneben spielt Fulham.
Das Spiel endet 2:2. Wigan ist zwar spielbestimmend und hat die
besseren Chancen, doch Fulham geht zweimal in Führung. Wigan gleicht zweimal
aus. Drei der vier Tore sind sehenswerte Weitschüsse, Jermaine Pennant
verwandelt sogar einen Freistoss direkt. Es macht Spass. Nur schon deshalb,
weil wir in England sind. Die Bälle werden oft weit in die Spitze gespielt, wo
dann verbissen um jeden Zentimeter gekämpft wird. Spielerisch anspruchsvoll ist
das nicht, aufregend aber allemal. Unterbrechungen gibt es nur wenige. Die
Pfeife bleibt im Zweifelsfall stumm. Selbst dann, wenn der starke Jack
McCormack mal wieder ausgebrochen ist und per Scherengrätsche gebremst wird.
Der junge Dan Burn beseitigt derweil jeglichen Ansatz von Gefahr kompromisslos
aus dem Strafraum. Mal mit dem Kopf, mal mit Kopf und Ellbogen, mal mit seinen
Stollen.
Als wir das Stadion verlassen haben, kommen wir wieder am Wohnquartier
vorbei. „Sieht aus, als würde Harry Potter hier wohnen.“
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