Ein ganz feiner Auftritt. Migration, Hooligans und Messi unter einem Hut. Sehr viel Licht bei den Lichtspielen. Bitte mehr davon!
Ich fragte mich, weshalb diese Dame da war. Sie war etwa 50 Jahre alt
und trug eine weisse, glatt gebügelte Bluse, dessen Ärmel fein säuberlich nach
oben bis hin zu den Ellenbogen gefaltet waren. Umso grösser gestaltete sich
dafür die Präsentationsfläche der goldenen Uhr, die ihr schmales Handgelenk
umfasste. Ich bin mir zudem sicher, dass sie mehrere teure Ringe trug. Und eine
Tasche. Ich glaube, sie war von Louis Vuitton. Aber was heisst das schon, ich
glaube? Womöglich hat mich auch einfach das gesellschaftlich weitverbreitete
Verlangen, Gedanken in Stereotypen zu pressen, heimgesucht. Das macht sie
greifbarer. Und die Handtasche im Nachhinein vielleicht bedeutend billiger.
Dennoch, dass sie sich zuerst den Dokumentarfilm Offside Istanbul ansah
und anschliessend der Diskussionsrunde beiwohnte, überraschte mich. „15 Minuten
will ich schon reinhören.“ , flüsterte sie ihrem Mann beinahe flehend zu,
nachdem der Film fertig war und die Podiumsdiskussion angekündigt wurde. Sie
blieb dann noch eine Stunde. Bis das Gespräch endete.
Das gebannte Lauschen der aufgebrezelten Frau mag aufgrund ihrer
optischen Erscheinung überrascht haben. Allerdings boten die Protagonisten auf
der Bühne einen derart spannenden Austausch, dass der Verbleib der Dame nur
allzu berechtigt war.
Beim Film Offside Istanbul werden afrikanische Flüchtlinge porträtiert,
die in Istanbul auf die grosse Fussballkarriere hoffen. Regisseur Jonas
Schaffter unternimmt im Film schon gar nicht erst den Versuch, die
aussichtslose Situation der Afrikaner zu erklären. Vielmehr überlässt er dem
Zuschauer die Interpretation der dortigen Zustände, indem er einzig die Spieler
sprechen lässt und sie bildlich begleitet. Es resultiert ein ehrliches und
unverfälschtes Bild. Manchmal überkommt mich das Verlangen, etwas zu sagen, Ratschläge
zu geben. Denn eines zeichnet sie alle aus: Naivität. Oftmals sind es
selbsternannte Berater, die vermeintliche Talente mit der Aussicht auf eine
Karriere als Profifussballer ködern. Für die Reise nach Istanbul müssen die
grundsätzlich armen Spieler aber selbst aufkommen. Es ist eine Naivität, die
purer Unwissenheit geschuldet ist. Fehlende Bildung, gepaart mit dem Druck, ein
ganzes Dorf versorgen zu müssen, sind Gründe dafür. Die afrikanischen
Fussballer eint aber auch eine andere Eigenschaft: Lebensfreude. Vielleicht
gerade weil der typische Erzähler fehlt, lässt der Film die Geschichte nah an
den Zuschauer heran. Die Bezeichnung Dokumentarfilm scheint deshalb nicht ganz
treffend zu sein. Der Film erklärt sich nicht dem Zuschauer. Er lässt ihn
erleben.
Nach einer kurzen Pause trifft man sich wieder im Saal des Kino Tiffany
an der Linsebühlstrasse. Der Saal ist Schauplatz von insgesamt vier Filmen. Und
der Saal ist – leider – viel zu gross. Die Bestuhlung reicht für 250 Leute. An
diesem warmen Samstagnachmittag finden sich nur deren 30 im Tiffany ein. Ihr
Kommen dürften aber die wenigsten bereut haben.
Regisseur Jonas Schaffter ist persönlich vor Ort und diskutiert
zusammen mit dem ehemaligen Profifussballer Sawwas Exouzidis und
Migrationsexperte Martin Müller über die vergangene Stunde. Buchautor und
Journalist Kaspar Surber stellt Fragen, leitet die Runde. Eine Runde, die
jedoch bald keine Leitung mehr benötigt. Schaffter erklärt, dass er den Film
während eines einjährigen Aufenthaltes in Istanbul drehte. Besonders schön ist
es, als er von einer „unausgesprochenen Übereinkunft“ erzählt. Er bekommt sein
Bildmaterial und die Afrikaner ihre Werbung. Noch heute hat er mit einigen
Spielern wöchentlichen Kontakt. Es sind Freundschaften entstanden. Die
Sachlichkeit Müllers und die Emotionalität Exouzidis’ scheinen sich beim Basler
Regisseur und Student zu vereinen. Sowohl bei Müllers intelligenten Inputs als
auch bei Exouzidis’ Griff ins Nähkästchen nickt der junge Schaffter beherzt.
Die drei Gäste sind geschickt gewählt worden. Sie kommen aus verschiedenen
Richtungen, haben aber beträchtliche Berührungspunkte mit der Migration.
Die unterschiedliche Herkunft generiert einen willkommenen Spielraum
der gegenseitigen Unwissenheit, weshalb Müller beispielsweise den
Deutsch-Griechen Exouzidis fragt, wie es sich mit dem Mindestlohn im Fussball
verhält. Im Verlaufe des Gesprächs wird man das Gefühl nicht los, dass die vier
Leute auf der Bühne auch ohne Publikum angeregt diskutieren würden. Vor allem
Exouzidis sticht heraus, weil er immer wieder die Initiative ergreift. Dass
seine Erzählungen gelegentlich am Thema vorbeizielen, sei ihm verziehen. Zu
interessant sind seine Ausführungen. Fehlende Aufenthaltsbewilligungen von Teamkollegen
oder mafiaähnliche Zustände in griechischen Vereinen – allerlei Spannendes ist
dabei. Exouzidis könnte vermutlich problemlos Fernsehen machen. Den dafür
nötigen Charme hat er. Zudem dürfte er mit Hipster-Bart und Skinny Jeans auch
mainstreamtauglich sein. Nur für den Fall, dass das Schweizer Fernsehen hier
mitliest.
Danach ist mein Besuch an der ersten, hoffentlich aber nicht letzten
Ausgabe der St. Galler Fussballlichtspiele vorbei. Den letzten Film, Looking
for Eric, habe ich mir als United-Fan und Cantona-Bewunderer schon längt
angesehen, weshalb ich um knapp neun Uhr den Heimweg antrete. Ich falte meine
Hemdärmel fein säuberlich nach oben bis hin zu den Ellenbogen und lasse die Eindrücke
des kleinen Festivals Revue passieren.
Den Anfang machte der Spielfilm Cass am Freitagabend. Er thematisiert
die Lebensgeschichte von Cass Pennant im Rahmen eines Spielfilms. Cass ist
Jamaikaner, wuchs aber in London bei seinen
Adoptiveltern auf. In Kindesjahren mit Rassismus konfrontiert, fand er erst als
Mitglied der berüchtigten Inter City Firm endlich Anerkennung. Später wird er
Anführer der Gruppe und muss ins Gefängnis, ehe er eine Frau kennenglernt und
diese heiratet. Jahre danach hat Cass der Inter City Firm den Rücken gekehrt
und arbeitet als Türsteher, wo ihn die Vergangenheit einholt. Er wird von einem
Arsenal-Fan angeschossen, überlebt aber.
Cass neigt zu Kitsch, schaut sich aber angenehm, wenn der Verstand für
zwei Stunden keine kritischen Nachfragen stellt. Überraschend ist, dass der
Film erst 2008 erschien. Somit nach dem ersten Hooligans-Teil, der ebenfalls
die Inter City Firm behandelt. Überraschend ist diese Tatsache insofern, weil
Cass szenisch weitaus authentischer wirkt. In der filmischen Umsetzung erinnert
Cass an die frühen Neunziger, ist also näher an den Achtzigerjahren, in welchen
der Streifen tatsächlich spielt. Dementsprechend hält eine gewisse Sehnsucht
Einzug, die bei Hooligans fehlt. Sie äussert sich in der Mode der Schauspieler oder
den verlassenen Backsteingässchen, die mit Neunziger-Film-Flair eher zum Tragen
kommen. Hinzu kommt, dass der Film zwar über deutschen Untertitel verfügt,
allerdings in englischer Sprache lief. Cockney hört sich einfach nach Insel an.
Nach Grounds. Nach dem Mutterland des Fussballs. Mit Schrecken erinnert sich
das informationsgeladene Journalistenhirn an den Umzug West Hams ins
Olympiastadion. Der Upton Park wird ab 2016 Geschichte sein.
Tag zwei bot neben den angesprochenen Looking for Eric und Offside
Istanbul zwei Blocks Kurzfilme sowie den Dokumentarfilm The Other Chelsea. Die
beiden Blocks Kurzfilme à 60 Minuten waren gerade noch kompakt genug, um sich
jedes Mal wieder auf eine neue, kleine Geschichte einzulassen. Man wechselte
munter zwischen verschiedenen Genres und Geschichten. Zuerst Zeichentrickfilm,
dann ein homosexueller Hooligan inmitten von homophoben Hooligans und
anschliessend eine witziges Filmchen über einen Greis, der fast verzweifelte,
weil er jedes Messi-Tor verpasste.
The Other Chelsea hörte sich vielversprechend an. Der Begriff Chelsea
schien die Lust auf die grosse, weite Fussballwelt zu stillen. Die
Filmbeschreibung gab preis, dass sich der Film um Shaktar Donetsk dreht. Das
Verlangen nach politischem Wissen würde also auch gestillt werden, ist der
Konflikt in der Ostukraine doch brandaktuell. Schlussendlich wurde es mehr Ukraine,
denn Chelsea. Schlimm ist es nicht. Dafür hat Regisseur Jakob Preuss den
Dokumentarfilm zu clever strukturiert. Die Schauplätze wechseln sich ab. Der
Film bleibt aber übersichtlich, weil es nur deren drei sind. Es ermöglicht dem
Zuschauer eine Beziehung zu den Personen im Film aufzubauen. Zum einen Kolja
Lewtschenko, Jungpolitiker und Unternehmer. Weil er stets versucht, den
schmalen Grat zwischen Seriosität und Offenheit zu finden, wirkt er irgendwie
undurchsichtig. Man würde ihm gerne länger zuhören. Einfach, um sich ein
klareres Bild von ihm zu machen. Zum anderen die Anhänger von Shaktar. Neben
ihrem Bezug zum Fussballverein, berichten sie von ihrem Leben. Dort ist das
örtliche Kohlewerk ein zentraler Punkt. Spätestens hier merkt man, dass die
Ostukraine nicht um die Ecke liegt. Dritter Schauplatz ist der Verein selbst.
Er wird zur Zeit, als der Film gedreht wird, UEFA-Cup-Sieger. Es wird wieder
vertrauter. Weil der Fussball im Mittelpunkt steht.
Denn: „Fussball ist mehr als elf gegen elf. Fussball ist mehr als 90
Minuten sportlicher Wettkampf. Die beiläufigen Schönheiten, die der Fussball
tagtäglich produziert, gehen in der medialen Dauerversorgung oft unter.“, wie
es die St. Galler Fussballlichtspiele auf ihrer Homepage treffend formuliert
haben. Als Ziel haben sie sich gesetzt, die „facettenreiche Welt des Fussballs
näher zu bringen“. Das ist gelungen. Schade ist, dass nur 30 Leute ins Tiffany
pilgerten. Wer als Zuschauer dabei war, würde gerne die Hemdärmel nach oben bis hin zu den Ellenbogen falten, um mitzuhelfen, dass es beim nächsten Mal
mehr sind. Schöne Momente sollen doch geteilt werden.
Aus einer „Bieridee“, wie Gründer Ruben Schönenberger erzählte, ist ein
launiges Festivalchen geworden. Festwirtschaft, Bier, Fussball, Gesprächsstoff
und ein gelungener Auftritt. Es fehlen nur noch: mehr Leute. Bitte mehr davon!
Köpfe hochkrempeln. Und die Ärmel natürlich auch. Bis zum nächsten Mal.
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