103 besuchte Spiele im
vergangenen Jahr. Dafür mehr als 30'000 Kilometer gereist, 9'000 davon alleine
mit dem Zug. Ulm, Aalen, Willington, Sochaux, Helsingborg oder Pilsen waren
unter anderem Destinationen. Das ist wahnsinnig. Wahnsinnig geil.
Fussballspiele als Sucht. Über Groundhopping.
Zugegeben: Viel war nicht nötig, um mich zu überzeugen. Wer mit einem
Pullover von West Ham United aufkreuzt, der hat meine Aufmerksamkeit. Wer
Fussball in 15 verschiedenen Ländern gesehen hat, der hat meine
uneingeschränkte Aufmerksamkeit.
Vielleicht war die nur spärliche Beleuchtung in der Brasserie genau
richtig, um diesen Geschichten zu lauschen. Wer von der Londoner Craven Cottage
schwärmt, über verlassene Bahnhöfe in Tschechien spricht und sich durchaus
differenziert über die Kommerzialisierung im Fussball äussert, bei dem ist –
zumindest fussballtechnisch – eine rebellische Ader auszumachen. Und Rebellen
umgeben grundsätzlich einen geheimnisvollen, bisweilen auch gefährlichen
Schleier.
Im Nachhinein war ich auch froh, dass Beamer und Leinwand beinahe
provokativ pünktlich zum Anpfiff von Gladbachs Auswärtsspiel in Sevilla
verschwand. Vermutlich hätte ich bei jeglichem Ansatz erregten Tonfalles des
Kommentators, mein Blick zum Spiel gerichtet. Ich hätte mich geärgert. Denn was
Groundhopper Andrin erzählte, war echt. Ein Urteil, das man bei weitem nicht
jedem Fussball-Interview attestieren kann. Je höher die Spielklasse, je höher
die Summen, desto mehr wird an der „Wahrheit“ geschraubt. Bloss nichts sagen,
was Mitspieler, Sponsoren oder den Verein in irgendeiner Form nicht passen
könnte. Notfalls schreitet der Pressechef ein, korrigiert, dementiert. Ciro
Immobiles Aussagen, die Deutschen seien kalt, kommt da schon Fussball-seelischem
Balsam gleich. Ein kleiner Blick hinter die Kulissen. Ein kleiner Blick in den
Menschen hinein. Halt echt. Andrin kann da mithalten. Wer Fussball in 15
verschiedenen Länder gesehen hat, der kann sich eine unverfälschte Meinung
bilden.
Er reist an Spiele in Europa und schreibt darüber. Frei von
manipulierten Stimmungsbildern in Fernsehen oder Zeitung. „Andrin unterwegs“
lautet die Plattform, auf welchen er seine Erfahrungen teilt. Dazu erscheint
alle sechs Monate ein Heft. Dabei ist er sich aber bewusst, dass er höchstens
eine kleine Randgruppe anspricht: „Ich mache das nicht, um möglichst viele Leser zu haben,
sondern will einfach meine Erlebnisse mit Leuten teilen, die ähnlich
angefressen sind.“ Viel Aufwand für vergleichsweise wenig Ertrag. Neben seiner
Arbeit, die Andrin als Praktikant bei einer Westschweizer Versicherung
verrichtet, bleibt nicht viel Zeit. Noch weniger, um ganze Texte über seine
Reisen zu verfassen. Dennoch nimmt er sie sich. Dass er wenig schläft und keine
Freundin hat, überrascht folglich nicht. Viel Aufwand und vergleichsweise wenig
Ertrag auch hinsichtlich der finanziellen Komponente. Ausschweifende Nächte im
St. Galler Nachtleben sind eher Mangelware. Vielmehr sitzt Andrin an einem
Sonntag lieber im Zug, Bus oder Flugzeug. Meistens ohne Kater und der jeweils
obligaten Frage, wo man denn die 100er-Note ausgab, die man morgens um drei
noch am Automaten rausgelassen hat.
Andrin überlegt, was er über die Reise ins Emirates Stadium zu erzählen
weiss. Er hält einen Moment inne. Währenddessen scheint er sich selbst bewusst
zu werden, dass ihn die fehlende Anekdote nur bestätigt. Fussball ist seiner
Meinung nach vielerorts zum reinen Entertainment-Anlass verkommen. Ich pflichte
ihm bei. Mittlerweile ist es kein Interview mehr. Vielmehr ist es ein launiges Gespräch,
in dem zwei Fussball-Romantiker über den heutigen Fussball und dessen
Begleiterscheinungen sinnieren. Inhaltlich, so würde man als Beobachter sicherlich
festhalten, sind wir 40. Mindestens. In breites Fachwissen mischt sich aber
immer wieder auch blinde Sehnsucht, wie es bei Fussball-Romantiker eben üblich
ist. Jederzeit würde man purer Abstiegskampf bei Crystal Palace einem
Champions-League-Halbfinale in der Allianz Arena vorziehen. Optisch haben wir
gerade erst die Teenager-Phase hinter uns gelassen. Glatt rasiert, sofern dies
überhaupt nötig ist.
Wir kommen wieder auf die Kommerzialisierung im Fussball zurück. Gänzlich
abwegig sei diese Entwicklung nicht, Sorgen bereite aber die Dosierung. Es
seien vor allem die Spitzenvereine, welche ihren „Fans“ beim Gang ins Stadion übermässiges
Entertainment liefern würden. „Ob ich nun ein Spiel in der Allianz Arena oder
im Emirates Stadium sehe, macht keinen grossen Unterschied.“, urteilt Andrin.
Die Besuche ähneln sich. Obwohl der fremde Nachbar nur wenige
Zentimeter entfernt sitzt, trennt ihn meist viel mehr. Oft sind es mehrere
Taschen des Megastores. Auch Missgunst lassen die wenigen Zentimeter in einen
gefühlten Meter anwachsen. Stösst man sich mit dem Ellbogen mal an, erntet man
umgehend kritische Blicke. Ein Tor an der Ipswicher Portman Road mit
wildfremden Menschen zu bejubeln, kommt da schon eher dem Begriff Erlebnis nah.
Und anders als beim Entertainment setzt das Erlebnis einen gewissen Grad an
Eigeninitiative voraus. Wobei aber weniger das Aufsuchen des vereinseigenen Shops
gemeint ist, sondern mehr das aktive Mitgestalten einer positiven Stimmung.
Nicht nur bei sich selbst. Andrin erzählt von einmaligen Gesprächen. Schauplatz
war aber nicht etwa das Emirates Stadium oder die Münchner Allianz Arena,
sondern die beschaulicheren Spielstätten. Er erzählt von spannenden Begegnungen
in Tschechien und dem Schweizer Regional-Fussball.
Es macht Sinn. Der ständige Blick auf den Platz oder die Videowand
verunmöglichen durchaus teilweise den Tiefgang. Natürlich begutachtet aber auch
Andrin das Treiben auf dem Platz, auch wenn er nicht nur des Spiels wegen
anreist: „Für mich ist das Spiel die Belohnung für die Planung und die Reise.“,
erklärt der Kanti-Absolvent. Dennoch ist sein Fachwissen beachtlich: „In
England und Deutschland kenne ich eigentlich jeden Spieler der obersten Spielklasse.“
Sekunden später benennt er Leighton Baines als seinen Lieblingsspieler. Weitere
Fragen zu seinem Fachwissen erübrigen sich.
Die Frage nach dem Antrieb beschäftigt mich. Zwar habe ich mich auch
schon mehrmals am frühen Sonntagnachmittag durch die 2. Bundesliga gekämpft,
dies aber im wohligen Wissen jederzeit umschalten zu können. Andrin hat diese
Option nicht. Im Gegenteil. Erste Zweifel werden ihm wohl schon beim Klingeln
des Weckers morgens um vier Uhr kommen. In Aussicht eine Partie der
Spielvereinigung Unterhaching. Nichts mit ausschlafen. Innerlich bin ich kurz gespalten,
entschliesse mich aber noch nicht ungläubig den Kopf zu schütteln. Ich will die
Antwort abwarten. Und diese ist so simpel, wie richtig: Fussball. Andrin gibt
zu: „Ich habe mich auch schon oft gefragt, weshalb ich das alles mache.“
Gelegenheiten um in Muster von Selbstzweifel zu verfallen, gab und gibt es ja
genug. „Natürlich zweifelst du, wenn du nach einer Nullnummer um zehn Uhr am
Stuttgarter Bahnhof stehst und weisst, dass du erst in fünf Stunden zu Hause
bist.“ Aber eben, es ist Fussball. Es gibt diese enttäuschenden Spiele, nach
denen man sich fragt, wieso man dafür Zeit und Geld geopfert hat. Nach denen
man mit seinen Eltern hadert, wieso sie dich bloss zum Fussball schickten. Aber
es gibt auch andere Spiele. Diese wunderbar mitreissenden Partien.
Last-Minute-Treffer, ein Sieg von David gegen Goliath, Traumtore oder einfach
ein Sieg deines favorisierten Vereins. Bei Andrin kommt zudem hinzu, dass der Erfolg
einer Reise nicht nur von den 90 Minuten abhängig ist. „Ein Ausflug beginnt
schon mit der Planung“, so Andrin. Dabei ist ein gelungener Abschluss einer
Planung, die Vorfreude, die Reise selbst, sowie das Erlebnis vor Ort genauso
ein wichtiger Faktor, wie das Spiel selbst.
Mich überrascht, wie gut der in im Moment in Lausanne wohnhafte Andrin alleine
zurechtkommt. Auch wenn er viel mit Freunden reist, ist er dennoch häufig
alleine unterwegs. Dabei sind die Ziele nicht etwa Gossau oder Wil, sondern
auch international gewählt. Und wie soll man so die schönen Momente teilen
können? Für Andrin ist das kein Problem. Selbst am Arbeitsplatz weiss niemand
von seiner Passion. Andrin kann auch stiller, alleiniger Geniesser sein. Er ist
Einzelkind. Womöglich gründet diese Eigenschaft auf diesem Umstand. Nun gut,
dann teilte sein Vater die Fussballbegeisterung mit ihm, denke ich mir. Dann
komme ich auf seine Anfänge im Groundhopping zu sprechen. In diesen spielen
seine Eltern keine Rolle. Andrin geht durch einen Freund erst zu den
Heimspielen des FC St. Gallen. Später unterstützt er die Espen auch auswärts.
„Irgendwann habe ich gemerkt, dass es eigentlich immer dasselbe ist.”, stellt
Andrin fest. Von da an besucht er auch international Spiele. Dabei ist ihm das
Wort Groundhopping noch kein Begriff. Erst als er schon exzessiv umherreist,
wird er damit konfrontiert. „Ich wollte wissen, ob es auch andere gibt, die
sowas machen, dann bin ich auf dieses Wort gestossen.“ Irgendwie passt das zum
umtriebigen, neugierigen Andrin. Er ist losgezogen, um zu entdecken. Ohne
irgendwelche verfälschten Bilder.
Wer sich von Andrins Eindrücken ein Bild machen will, der findet
unter „andrinunterwegs.ch“ alles über seine Reisen. In anderer Funktion werden
wir ihn wohl nicht zu sehen bekommen. „Fotograf bei Fussballspielen?
Sportjournalist? Reiseführer?“, frage ich ihn. Seine Zukunft sieht er woanders,
nämlich am ehesten noch irgendwann an der Seitenlinie. Zum Beispiel gerne beim
abstiegsbedrohten Viertligisten Tranmere Rovers. Etwas Echtes halt. Zuerst aber
zieht er los. Cham, Wolverhampton, Lyon, Barcelona oder Kaiserslautern sind nur
einige, der geplanten nächsten Spiele.
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