Freitag, 14. Februar 2014

Das erste Mal Old Trafford

Das erste Mal Old Trafford - ein Erfahrungsbericht. Von Sheringham, einem Riesenrad und Stretford End. Unverhofft charmant.


Wir schreiben den 6. Oktober 2001. Das Spiel begann um 16 Uhr. Es muss also etwa 15 Minuten Minuten vor fünf gewesen sein, als ich enttäuscht den Fernseher ausschaltete und traurig den Raum verliess. England lag mit 1:2 gegen Griechenland zurück. Für die direkte WM-Qualifikation fehlte ein einziges Tor. Für ein siebenjähriges Kind, das glühender United-Fan und noch glühender Beckham-Fan war, harte Augenblicke. Noch härter im Anbetracht dessen, dass sich, bliebe es bei diesem Spielstand, die deutsche Nationalmannschaft den Gruppensieg sichern würde. Den mühsamen Gang in die Relegation wäre also meinen geliebten Engländern vorbehalten gewesen. Obwohl mit der Sportschau aufgewachsen, kam die deutsche Elf bei mir lange nie über den Bayern-Status hinaus. Man liebt sie oder man hasst sie. Naja, ich tat Letzteres. Eine Schmach. Für Beckham, für England, für Old Trafford, das zu allem Ärger noch Austragungsort dieses kapitalen Spiels war. England gegen Griechenland. Zwei zu Eins. Nachspielzeit. Ich schalte aus.

Meine Mutter fragte mit am Abend, weshalb ich so traurig sei. „England!“, knurrte ich. Sie lächelte und erzählte mir, was sich in der Nachspielzeit in Old Trafford zugetragen hat. Ich sah mir das Tor wieder und wieder an. Beckham, dazumals auf dem besten Weg der erste Fussball-Popstar in Manchester seit George Best („Ich habe viel Geld für Alkohol, Frauen und schnelle Autos ausgegeben. Den Rest habe ich einfach verprasst.“) zu werden, verwandelte das “Theatre Of Dreams“ in ein Tollhaus. Und er machte dies in seiner unnachahmlicher Weise. In der Nachspielzeit bekam England einen Freistoss aus 20 Meter, ziemlich zentral, zugesprochen. Während sich Teddy Sheringham den Ball schnappen wollte, stellte sich Beckham der Verantwortung des Kapitäns und legte sich den Ball zurecht. Nach sieben Metern Anlauf schlug er mit dem linken Arm aus, wie er es immer tat bei seinen Freistössen. Die majestätisch anmutenden Bewegungen gipfelten im rechten Fuss, dieser in damals noch einzigartigen weissen Fussballschuhen gesteckt, womit er das Leder in die linke, obere Ecke versenkte. Zwei zu zwei – England ist qualifiziert.

Später besorgte mir mein Vater ein Poster des Stadions, wo die Köpfe der Spieler den Rand des Drucks bildeten. Barthez, Phil und Gary Neville, van Nistelrooy, Blanc, Veron, Scholes und Beckham hiessen damals die Stars. Es waren die ersten Erfahrungen mit Old Trafford. Ein Stadion, das ich seit jeher bewunderte. Bewundern auch auf eine sehr ehrfürchtige Art und Weise. Der Schleier der grossen Geschichte, die durch grandiose Spiele weiter wuchs, umgab das 1910 gebaute Stadion ebenso, wie die typisch englischen Tribünen. Nah am Spielfeld, gefüllt mit leidenschaftlichen Fans, in meiner Vorstellung glatzköpfige und volltätowierte Engländer, die ihrer Aufmachung nach zwar ziemlich wild aussahen, aber immerhin Anhänger der “Red Devils“ waren. Vorstellung hin oder her. Da waren Leute in Old Trafford, die ziemlich Lärm machten. Ich erinnere mich an ein Spiel im November 2005. Da mein grosser Bruder nicht zu Hause war, schlich ich mich in sein Zimmer und verfolgte die Partie zwischen United und dem durch Abramowitsch neu erstarkten Blues aus London. Fletcher erzielte in der 30. Minute den einzigen Treffer der Partie. Manchester brannte und mir wurde klar, dass ich eines Tages auch da drin sitzen muss.

Wir schreiben den 9. Februar 2014. Das Spiel beginnt um 16 Uhr. Bis zum Anpfiff sind es noch knapp fünf Stunden. Wir, das sind mein Bruder und ich, schlendern durch die Innenstadt Manchesters. Die graue Wolkenwand sorgt regelmässig für vereinzelte Schauer. Der raue Wind untermalt das Ganze. Irgendwie typisch englisch, dieses Wetter. Inmitten moderner Gebäude, die immer wieder auf ältere, ziemlich kahl wirkender Bauten folgen,  tummeln sich mehr und mehr  Menschen. Die trostlose Färbung, welche diese Stadt zweifelsfrei aufweist, scheint die Leute nicht zu stören. Es ist, als hätten sich die Bewohner damit abgefunden. Ja, es ist beinahe so, als stecke man seine Emotionen schlicht und einfach in Fussball – in City oder United. Vielmehr hat diese Stadt nicht zu bieten, sieht man vom Riesenrad im Zentrum ab, das nicht nur wie eine billige Imitation des Pendants aus London aussieht, sondern schon im Versuch daran scheitert, aus der grauen Trostlosigkeit dieser Arbeiterstadt herauszubrechen. Dass sich die Menschen dort mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben scheinen, verleiht der Stadt dann aber einen unverhofften Charme.

Um etwa 13 Uhr gehen wir essen. “The Shakespeare’s“ heisst das Lokal, das unseren zuvor gestellten Anforderungen von einem typisch englischen Schuppen (dunkle Fassade, mittelalterliche Schriften, vergitterte, dunkle Fenster, Live-Fussball-Übertragungen und Fish and Chips), genügt. Drinnen sitzen sechs Männer – wohl Familienväter – bei einem Guinness zusammen und sprechen über die kommende Partie. Ich fühle mich wohl. Dies ändert sich schlagartig, als ich den glatzköpfigen, tätowierten Mann an der Bar sehe. Der Typ sah so wild aus, dass er meiner Vorstellung von United-Fans bis ins letzte Detail entsprach. Während er alleine an einem Bier nippte, knöpfte sich eine ältere Dame – wohl City-Fan – einen United-Anhänger vor. Auf die nicht jugendfreien Äusserungen der Frau antwortete der junge Mann lediglich mit einem Lächeln. Und ich merkte: Es ist Match Day.

Wir nehmen die Bahn und steigen bei der Haltestelle Old Trafford aus. Rund zwei Stunden vor Spielbeginn bewegen sich bereits tausende von Fans einer langen Strasse nach. Diese ist gepflastert mit roten Backsteinhäusern, welche vereinzelt durch Pubs oder Restaurants unterbrochen werden. Alle 50 Meter wird man von einem Schal-Verkäufer angeschrien, der lautstark seine Produkte an den Mann bringen will, was sich mitunter so anhört: „boi än iuneitid scoof!“ – also: buy an united scarf. Auf einmal ragt ein Gebäude heraus. Gläserne Fassade, auf dem Dach ein weiss lackiertes Metall-Gerüst – Old Trafford. Mein Puls steigt bis wir inmitten von Asiaten einige Bilder des Stadions schiessen. Die Szenerie ist stellvertretend für die Kommerzialisierung der Premier League, insbesondere von Manchester United. Die Ticketpreise sind höher, Fussball-Tourismus an der Tagesordnung. Überall sind grün-gelb gestreifte T-Shirts und Schals zu sehen. Grün-gelb – die ursprünglichen Farben von Manchester United, was in den ersten Jahren Newton Heath FC geheissen hatte. Zurück zu den Wurzeln und weg vom kapitalistischen Malcolm Glazer, so die Botschaft dieser Bewegung. Der Amerikaner betrachtet Manchester United mehr als Unternehmen, den als Fussballverein mit Seele. Gerüchten zufolge soll er noch nie ein Spiel besucht haben und sich stattdessen lieber mit dem NFL-Team der Tampa Bay Buccaneers vergnügen. Es sind Reibungspunkte zwischen Tradition und Kommerzialisierung. Manchester United ist ein Mythos. Ein Flugzeugabsturz, ein legendäres Last-Minute-Finale, unzählige Titel – Die Geschichte Uniteds ist bedeutend. Heute aber ist Manchester United eine Marke. Das Wappen mit dem Teufel und dem Schiff ist weltweit präsent und jedem ein Begriff. All dies ist auch im Stadioninnern zu spüren. Ein geordnetes Anfeuern der eigenen Mannschaft fand so nicht statt. Es waren zwar verschiedene Gruppen auszumachen, die sich um eine gute Stimmung bemühten, insgesamt wirkte das aber wenig organisiert. Gleichzeitig präsentierte sich die Atmosphäre im Stadion aber beeindruckend, wenn denn das Team eine Drangphase hatte. In Zeiten, wo Spieler zu weinen beginnen (HSV), Fussballer angegriffen werden (HSV) und man mit Champions-League-Löhnen der Zweitklassigkeit entgegen steuert (HSV) ist es aber bewundernswert, wie loyal das Publikum in Old Trafford ist. Es macht beinahe den Anschein, dass die Zuschauer ein Gespür für die Lage ihres Vereins haben. Ein Pfeifkonzert zur Halbzeitpause blieb, trotz Rückstand gegen den Tabellenletzten, komplett aus. Stattdessen wurde in brünstig “Glory Glory Man United“ angestimmt. Nemanja Vidic, langjähriger Kapitän, hatte vor wenigen Tagen verkündet, seinen im Sommer auslaufenden Kontrakt nicht verlängern zu wollen. Was in grossen Teilen Europas in einem gellenden Pfeifkonzert, gespickt mit “Buuuh’s“ und Schimpfwörtern gemündet hätte, sorgte in Manchester für regelmässiges Besingen des serbischen Abwehrspielers.

Die Probleme Uniteds wurden derweil schonungslos aufgedeckt. Leider ist es Tatsache, dass man mit van Persie, Rooney und Mata nur drei Spieler in den Reihen hat, welche das Prädikat “weltklasse“ verdienen und somit auch in der Lage sind, ein Spiel zu entscheiden. Spätestens nach dem frühen Führungstreffer der “Cottagers“ durch Sidwell (19.) war ManU gezwungen das Spiel zu machen. Carrick und Fletcher sind defensiv starke Sechser. In der offensive fehlt es ihnen an Qualität. Impulse im Angriffsspiel waren und sind eine Rarität. Mata wäre wohl aufgrund seines Spielwitzes im Zentrum zurzeit besser aufgehoben, als auf dem Flügel. Aufgrund mangelnder Alternativen scheint diese Aufstellung aber unumgänglich. Auf der anderen Seite wirbelte Ashley Young, wobei “wirbeln“ das falsche Wort ist, da Young – wie so oft – einiges schuldig bliebt. Der Engländer ist zwar schnell, hat aber offenkundige Defizite in Sachen Kreativität und Passspiel, was sich vor allem bei Flanken bemerkbar machte.  Dieser Sachverhalt zwang Rooney zu einem sehr Lauf intensiven Spiel. Er liess sich oft zurückfallen, um die Bälle zu fordern. Nach der Einwechslung Januzaj’s rückte Rooney gar auf die Sechs, da im Gegenzug Fletcher die Partie verliess. Mit Januzai wurde Manchester stärker. Der junge Belgier sorgte für Betrieb im Strafraum der Londoner, die auf dem letzten Tabellenplatz stehen und lediglich darauf bedacht waren defensiv solide zu stehen. Der Abwehrverbund zeigte sich zwar sehr sortiert, war angesichts der destruktiven Ausrichtung Fulhams aber auch nicht sonderlich gefordert. Vor allem der im Sommer scheidende Nemanja Vidic räumte jeden Ansatz einer Torchance kompromisslos aus dem Weg. Ein Kollege in der Innenverteidigung, Chris Smalling, zeigte sich defensiv zwar eigentlich fehlerlos, sündigte dafür aber in der Spieleröffnung. Smalling benötigte zu viel Zeit das Spiel der United aufzubauen. Die Aussenverteidiger versuchten sich am Offensivspiel zu beteiligen, scheiterten aber schlicht an den fehlenden individuellen Fähigkeiten, was sich bei den sehr schwachen Flanken äusserte.

Es soll ja diese bedeutenden, einschneidenden Momente im Leben geben. Etwa, wenn man Vater wird. Andere beschreiben schlichtere Vorkommnisse als spezielle Augenblicke ihres Lebens. So beispielsweise eine wichtige Beförderung. Wiederrum andere sind da noch simpler gestrickt und erfreuen sich ab gutem Essen oder Sex. Naja, es soll ja diese bedeutenden, einschneidenden Momente im Leben geben. Ich gebe ungern zu, dass zu diesen Ereignisse zweifelsohne das Betreten eines ehrwürdigen Stadions gehört. Sich durch die in Bier getränkten Menschenmassen kämpfen und ins Stadioninnern laufen. Was sich dort einem präsentiert ist atemberaubend. Ein Augenblick malerischer Schönheit, gedenkt man den Schlachten, die sich auf diesem Rasen abgespielt haben, gedenkt man den Spielern, die sich hier die Ehre gegeben haben oder in wenigen Minuten geben werden.

Wir steuern E 32, unseren Sektor, an und finden uns in einem Treppenhaus wieder. Die in rote Gitter gehüllten Treppen enden in einem grossen Raum, wo Snacks und Getränke angeboten werden und auf mehreren Fernseher die Partie zwischen Tottenham und Everton übertragen wird. Wir begeben uns über eine kleine Treppe ins Innere von Old Trafford. Ein bedeutender, einschneidender Moment. Ich halte kurze inne und lasse mein Blick durch das weite Rund schweifen. Die Tribünen sind bezeichnet. “Stretford End“ beherbergt die treusten aller United-Fans. Die Gegentribüne, mit “Sir Alex Ferguson Stand“ beschriftet, wurde anlässlich des 25-jährigen Jubiläum Fergusons Herrschaft in Manchester so getauft.


Wir schreiben den 9. Februar 2014. Das Spiel begann um 16 Uhr. Es muss also etwa 20 vor fünf gewesen sein, als – ausgerechnet – Michael Carrick den Ball von der Strafraumgrenze in den Winkel schoss. Zwei zu eins für Manchester. Old Trafford, das ist ein Tollhaus in diesem Augenblick. Der Ausgleich in der Nachspielzeit passt irgendwie ins Bild. Zur aktuellen Mannschaft, dessen Verfassung. Irgendwie aber auch zur Stadt. Die Zuschauer nehmen’s der Mannschaft nicht übel. Unverhoffter Charme.


Michael Carrick's Tor zum 2:1. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen