Das erste Mal Old Trafford - ein Erfahrungsbericht. Von Sheringham, einem Riesenrad und Stretford End. Unverhofft charmant.
Wir schreiben den 6.
Oktober 2001. Das Spiel begann um 16 Uhr. Es muss also etwa 15 Minuten Minuten
vor fünf gewesen sein, als ich enttäuscht den Fernseher ausschaltete und
traurig den Raum verliess. England lag mit 1:2 gegen Griechenland zurück. Für
die direkte WM-Qualifikation fehlte ein einziges Tor. Für ein siebenjähriges
Kind, das glühender United-Fan und noch glühender Beckham-Fan war, harte
Augenblicke. Noch härter im Anbetracht dessen, dass sich, bliebe es bei diesem
Spielstand, die deutsche Nationalmannschaft den Gruppensieg sichern würde. Den
mühsamen Gang in die Relegation wäre also meinen geliebten Engländern
vorbehalten gewesen. Obwohl mit der Sportschau aufgewachsen, kam die deutsche
Elf bei mir lange nie über den Bayern-Status hinaus. Man liebt sie oder man
hasst sie. Naja, ich tat Letzteres. Eine Schmach. Für Beckham, für England, für
Old Trafford, das zu allem Ärger noch Austragungsort dieses kapitalen Spiels
war. England gegen Griechenland. Zwei zu Eins. Nachspielzeit. Ich schalte aus.
Meine Mutter fragte
mit am Abend, weshalb ich so traurig sei. „England!“, knurrte ich. Sie lächelte
und erzählte mir, was sich in der Nachspielzeit in Old Trafford zugetragen hat.
Ich sah mir das Tor wieder und wieder an. Beckham, dazumals auf dem besten Weg
der erste Fussball-Popstar in Manchester seit George Best („Ich habe viel Geld
für Alkohol, Frauen und schnelle Autos ausgegeben. Den Rest habe ich einfach
verprasst.“) zu werden, verwandelte das “Theatre Of Dreams“ in ein Tollhaus.
Und er machte dies in seiner unnachahmlicher Weise. In der Nachspielzeit bekam
England einen Freistoss aus 20 Meter, ziemlich zentral, zugesprochen. Während
sich Teddy Sheringham den Ball schnappen wollte, stellte sich Beckham der
Verantwortung des Kapitäns und legte sich den Ball zurecht. Nach sieben Metern
Anlauf schlug er mit dem linken Arm aus, wie er es immer tat bei seinen
Freistössen. Die majestätisch anmutenden Bewegungen gipfelten im rechten Fuss,
dieser in damals noch einzigartigen weissen Fussballschuhen gesteckt, womit er
das Leder in die linke, obere Ecke versenkte. Zwei zu zwei – England ist
qualifiziert.
Später besorgte mir
mein Vater ein Poster des Stadions, wo die Köpfe der Spieler den Rand des
Drucks bildeten. Barthez, Phil und Gary Neville, van Nistelrooy, Blanc, Veron,
Scholes und Beckham hiessen damals die Stars. Es waren die ersten Erfahrungen
mit Old Trafford. Ein Stadion, das ich seit jeher bewunderte. Bewundern auch
auf eine sehr ehrfürchtige Art und Weise. Der Schleier der grossen Geschichte,
die durch grandiose Spiele weiter wuchs, umgab das 1910 gebaute Stadion ebenso,
wie die typisch englischen Tribünen. Nah am Spielfeld, gefüllt mit
leidenschaftlichen Fans, in meiner Vorstellung glatzköpfige und volltätowierte
Engländer, die ihrer Aufmachung nach zwar ziemlich wild aussahen, aber immerhin
Anhänger der “Red Devils“ waren. Vorstellung hin oder her. Da waren Leute in
Old Trafford, die ziemlich Lärm machten. Ich erinnere mich an ein Spiel im
November 2005. Da mein grosser Bruder nicht zu Hause war, schlich ich mich in
sein Zimmer und verfolgte die Partie zwischen United und dem durch Abramowitsch
neu erstarkten Blues aus London. Fletcher erzielte in der 30. Minute den
einzigen Treffer der Partie. Manchester brannte und mir wurde klar, dass ich
eines Tages auch da drin sitzen muss.
Wir schreiben den 9.
Februar 2014. Das Spiel beginnt um 16 Uhr. Bis zum Anpfiff sind es noch knapp
fünf Stunden. Wir, das sind mein Bruder und ich, schlendern durch die
Innenstadt Manchesters. Die graue Wolkenwand sorgt regelmässig für vereinzelte
Schauer. Der raue Wind untermalt das Ganze. Irgendwie typisch englisch, dieses
Wetter. Inmitten moderner Gebäude, die immer wieder auf ältere, ziemlich kahl
wirkender Bauten folgen, tummeln sich
mehr und mehr Menschen. Die trostlose
Färbung, welche diese Stadt zweifelsfrei aufweist, scheint die Leute nicht zu
stören. Es ist, als hätten sich die Bewohner damit abgefunden. Ja, es ist
beinahe so, als stecke man seine Emotionen schlicht und einfach in Fussball –
in City oder United. Vielmehr hat diese Stadt nicht zu bieten, sieht man vom
Riesenrad im Zentrum ab, das nicht nur wie eine billige Imitation des Pendants
aus London aussieht, sondern schon im Versuch daran scheitert, aus der grauen
Trostlosigkeit dieser Arbeiterstadt herauszubrechen. Dass sich die Menschen
dort mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben scheinen, verleiht der Stadt dann
aber einen unverhofften Charme.
Um etwa 13 Uhr gehen
wir essen. “The Shakespeare’s“ heisst das Lokal, das unseren zuvor gestellten
Anforderungen von einem typisch englischen Schuppen (dunkle Fassade,
mittelalterliche Schriften, vergitterte, dunkle Fenster,
Live-Fussball-Übertragungen und Fish and Chips), genügt. Drinnen sitzen sechs
Männer – wohl Familienväter – bei einem Guinness zusammen und sprechen über die
kommende Partie. Ich fühle mich wohl. Dies ändert sich schlagartig, als ich den
glatzköpfigen, tätowierten Mann an der Bar sehe. Der Typ sah so wild aus, dass
er meiner Vorstellung von United-Fans bis ins letzte Detail entsprach. Während
er alleine an einem Bier nippte, knöpfte sich eine ältere Dame – wohl City-Fan
– einen United-Anhänger vor. Auf die nicht jugendfreien Äusserungen der Frau
antwortete der junge Mann lediglich mit einem Lächeln. Und ich merkte: Es ist
Match Day.
Wir nehmen die Bahn
und steigen bei der Haltestelle Old Trafford aus. Rund zwei Stunden vor
Spielbeginn bewegen sich bereits tausende von Fans einer langen Strasse nach.
Diese ist gepflastert mit roten Backsteinhäusern, welche vereinzelt durch Pubs
oder Restaurants unterbrochen werden. Alle 50 Meter wird man von einem
Schal-Verkäufer angeschrien, der lautstark seine Produkte an den Mann bringen
will, was sich mitunter so anhört: „boi än iuneitid scoof!“ – also: buy an
united scarf. Auf einmal ragt ein Gebäude heraus. Gläserne Fassade, auf dem
Dach ein weiss lackiertes Metall-Gerüst – Old Trafford. Mein Puls steigt bis
wir inmitten von Asiaten einige Bilder des Stadions schiessen. Die Szenerie ist
stellvertretend für die Kommerzialisierung der Premier League, insbesondere von
Manchester United. Die Ticketpreise sind höher, Fussball-Tourismus an der
Tagesordnung. Überall sind grün-gelb gestreifte T-Shirts und Schals zu sehen.
Grün-gelb – die ursprünglichen Farben von Manchester United, was in den ersten
Jahren Newton Heath FC geheissen hatte. Zurück zu den Wurzeln und weg vom kapitalistischen
Malcolm Glazer, so die Botschaft dieser Bewegung. Der Amerikaner betrachtet
Manchester United mehr als Unternehmen, den als Fussballverein mit Seele.
Gerüchten zufolge soll er noch nie ein Spiel besucht haben und sich stattdessen
lieber mit dem NFL-Team der Tampa Bay Buccaneers vergnügen. Es sind
Reibungspunkte zwischen Tradition und Kommerzialisierung. Manchester United ist
ein Mythos. Ein Flugzeugabsturz, ein legendäres Last-Minute-Finale, unzählige
Titel – Die Geschichte Uniteds ist bedeutend. Heute aber ist Manchester United
eine Marke. Das Wappen mit dem Teufel und dem Schiff ist weltweit präsent und
jedem ein Begriff. All dies ist auch im Stadioninnern zu spüren. Ein geordnetes
Anfeuern der eigenen Mannschaft fand so nicht statt. Es waren zwar verschiedene
Gruppen auszumachen, die sich um eine gute Stimmung bemühten, insgesamt wirkte
das aber wenig organisiert. Gleichzeitig präsentierte sich die Atmosphäre im
Stadion aber beeindruckend, wenn denn das Team eine Drangphase hatte. In
Zeiten, wo Spieler zu weinen beginnen (HSV), Fussballer angegriffen werden
(HSV) und man mit Champions-League-Löhnen der Zweitklassigkeit entgegen steuert
(HSV) ist es aber bewundernswert, wie loyal das Publikum in Old Trafford ist.
Es macht beinahe den Anschein, dass die Zuschauer ein Gespür für die Lage ihres
Vereins haben. Ein Pfeifkonzert zur Halbzeitpause blieb, trotz Rückstand gegen
den Tabellenletzten, komplett aus. Stattdessen wurde in brünstig “Glory Glory
Man United“ angestimmt. Nemanja Vidic, langjähriger Kapitän, hatte vor wenigen
Tagen verkündet, seinen im Sommer auslaufenden Kontrakt nicht verlängern zu
wollen. Was in grossen Teilen Europas in einem gellenden Pfeifkonzert, gespickt
mit “Buuuh’s“ und Schimpfwörtern gemündet hätte, sorgte in Manchester für
regelmässiges Besingen des serbischen Abwehrspielers.
Die Probleme Uniteds
wurden derweil schonungslos aufgedeckt. Leider ist es Tatsache, dass man mit
van Persie, Rooney und Mata nur drei Spieler in den Reihen hat, welche das
Prädikat “weltklasse“ verdienen und somit auch in der Lage sind, ein Spiel zu
entscheiden. Spätestens nach dem frühen Führungstreffer der “Cottagers“ durch
Sidwell (19.) war ManU gezwungen das Spiel zu machen. Carrick und Fletcher sind
defensiv starke Sechser. In der offensive fehlt es ihnen an Qualität. Impulse
im Angriffsspiel waren und sind eine Rarität. Mata wäre wohl aufgrund seines
Spielwitzes im Zentrum zurzeit besser aufgehoben, als auf dem Flügel. Aufgrund
mangelnder Alternativen scheint diese Aufstellung aber unumgänglich. Auf der
anderen Seite wirbelte Ashley Young, wobei “wirbeln“ das falsche Wort ist, da
Young – wie so oft – einiges schuldig bliebt. Der Engländer ist zwar schnell,
hat aber offenkundige Defizite in Sachen Kreativität und Passspiel, was sich
vor allem bei Flanken bemerkbar machte.
Dieser Sachverhalt zwang Rooney zu einem sehr Lauf intensiven Spiel. Er
liess sich oft zurückfallen, um die Bälle zu fordern. Nach der Einwechslung
Januzaj’s rückte Rooney gar auf die Sechs, da im Gegenzug Fletcher die Partie
verliess. Mit Januzai wurde Manchester stärker. Der junge Belgier sorgte für Betrieb
im Strafraum der Londoner, die auf dem letzten Tabellenplatz stehen und
lediglich darauf bedacht waren defensiv solide zu stehen. Der Abwehrverbund
zeigte sich zwar sehr sortiert, war angesichts der destruktiven Ausrichtung
Fulhams aber auch nicht sonderlich gefordert. Vor allem der im Sommer
scheidende Nemanja Vidic räumte jeden Ansatz einer Torchance kompromisslos aus
dem Weg. Ein Kollege in der Innenverteidigung, Chris Smalling, zeigte sich
defensiv zwar eigentlich fehlerlos, sündigte dafür aber in der Spieleröffnung.
Smalling benötigte zu viel Zeit das Spiel der United aufzubauen. Die
Aussenverteidiger versuchten sich am Offensivspiel zu beteiligen, scheiterten
aber schlicht an den fehlenden individuellen Fähigkeiten, was sich bei den sehr
schwachen Flanken äusserte.
Es soll ja diese
bedeutenden, einschneidenden Momente im Leben geben. Etwa, wenn man Vater wird.
Andere beschreiben schlichtere Vorkommnisse als spezielle Augenblicke ihres
Lebens. So beispielsweise eine wichtige Beförderung. Wiederrum andere sind da
noch simpler gestrickt und erfreuen sich ab gutem Essen oder Sex. Naja, es soll
ja diese bedeutenden, einschneidenden Momente im Leben geben. Ich gebe ungern
zu, dass zu diesen Ereignisse zweifelsohne das Betreten eines ehrwürdigen
Stadions gehört. Sich durch die in Bier getränkten Menschenmassen kämpfen und
ins Stadioninnern laufen. Was sich dort einem präsentiert ist atemberaubend.
Ein Augenblick malerischer Schönheit, gedenkt man den Schlachten, die sich auf
diesem Rasen abgespielt haben, gedenkt man den Spielern, die sich hier die Ehre
gegeben haben oder in wenigen Minuten geben werden.
Wir steuern E 32,
unseren Sektor, an und finden uns in einem Treppenhaus wieder. Die in rote
Gitter gehüllten Treppen enden in einem grossen Raum, wo Snacks und Getränke
angeboten werden und auf mehreren Fernseher die Partie zwischen Tottenham und
Everton übertragen wird. Wir begeben uns über eine kleine Treppe ins Innere von
Old Trafford. Ein bedeutender, einschneidender Moment. Ich halte kurze inne und
lasse mein Blick durch das weite Rund schweifen. Die Tribünen sind bezeichnet.
“Stretford End“ beherbergt die treusten aller United-Fans. Die Gegentribüne,
mit “Sir Alex Ferguson Stand“ beschriftet, wurde anlässlich des 25-jährigen
Jubiläum Fergusons Herrschaft in Manchester so getauft.
Wir schreiben den 9.
Februar 2014. Das Spiel begann um 16 Uhr. Es muss also etwa 20 vor fünf gewesen
sein, als – ausgerechnet – Michael Carrick den Ball von der Strafraumgrenze in
den Winkel schoss. Zwei zu eins für Manchester. Old Trafford, das ist ein
Tollhaus in diesem Augenblick. Der Ausgleich in der Nachspielzeit passt
irgendwie ins Bild. Zur aktuellen Mannschaft, dessen Verfassung. Irgendwie aber
auch zur Stadt. Die Zuschauer nehmen’s der Mannschaft nicht übel. Unverhoffter
Charme.
Michael Carrick's Tor zum 2:1.
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