Mittwoch, 6. November 2013

Interview mit Jörg Stiel

Jörg Stiel über, Geld, sein Geschäft, die schwierige Zeit nach dem Fussball, Hans Meyer, Öberflächlichkeit im Fussball, Caceres von Juve, Fussball und Entertainment, Fussball und Politik, den FC St. Gallen, den Torwart, Marc-André ter Stegen, Typen wie Effenberg und den zukünftigen Schweizer Nationaltrainer. Puh, lest selbst!

"Lass den Stiel, ich bin Jörg.", schreibt er bereits in den Mails, die zu unserem Interview führten. Heute Morgen um neun Uhr im La Vela, einem heimeligen Kaffee mit südländischem Flair direkt am See in Rorschach, bestätigt sich dieser Eindruck von einer angenehmen, unkomplizierten Lockerheit. Er erkundigt sich erstmal nach mir, will wissen, wer ich bin. Klar, mittlerweile gehört der Fussball,Schatz zur Elite in Sachen Sportjournalismus. Dennoch: Irgendwie fühlt es sich gut an, wenn ein Name wie Jörg Stiel sich für sein Gegenüber in diesem Interview interessiert. Danach belehrt er mich, nachdem ich ein früheres Interview von ihm falsch interpretiert hatte. Er tut dies aber auf eine warme Art - und ein Gratis-Tipp für spätere Interviews gibt's obendrauf. Es vergehen keine Minuten bis mich das erste Mal das Gefühl überkommt mit einem alten Freund am Tisch zu sitzen. Ich blicke auf mein Handy - 09.33 Uhr. Über eine halbe Stunde quatschen wir bereits. Ja, man vergisst die Zeit in einem guten Gespräch. 


Danke, dass du dir Zeit genommen hast.

Mit Interviews habe ich keine Probleme. Schliesslich hat man bei Interviews die Möglichkeit mit dem, was man sagt, sich gegen Aussen zu positionieren. Ein gewisser Gegenwert also. Wenn es um Auftritte geht, rufen mich manchmal Leute an und fragen: „Wir haben dann und dann noch diesen Anlass. Kannst du nicht vorbeikommen? Früher hätte ich gesagt: Ja, kann ich machen. Aber heute? Keine Zeit. Ich unterscheide zwischen Privatem und Geschäftlichem. Mit Salzi (Rainer Maria Salzgeber, d. Red.) mache ich ein Podium. Ich habe mein Honorar, wo ich sage: Schau, so viel muss ich haben. In einem gewissen Kontext passe ich das aber an.

Es geht also um die Sache?

Es geht um die Sache. Ich habe auch schon Dinge gemacht für Non-Profit-Organisationen. Ganz am Anfang habe ich gesagt: Drei Flaschen Amarone sind auch okay. Das mache ich aber auch heute noch, wenn es eine gute Sache ist. Es ist einfach so, dass je älter ich wurde, desto deutlicher wurde mein Fokus. Anfangs bist du am heraussuche, am herausfinden, was du überhaupt kannst, was du überhaupt willst.  Ich  bin jetzt an einem Punkt, wo ich sage: Diese Prioritäten gibt es. Das Eine ist Geld zu verdienen. Wenn ich mit Salzi das Podium mache, dann habe ich Spass und werde dafür noch bezahlt. Passt! Es gibt aber auch Dinge, die mache ich nicht, weil ich keine Lust darauf habe. Natürlich gibt es aber auch eine Schmerzgrenze, wo du sagst: Eigentlich doof, wenn ich es nicht machen würde.

Du hast in deiner Zeit als Fussball gut verdient. Schaust du immer noch auf das Geld oder nimmt das im Alter ab?

Ich habe nicht so viel verdient, dass ich jetzt noch davon leben könnte. Ich habe drei Jahre in der Bundesliga gespielt. Die Löhne damals waren noch anders als sie heute sind. Da gab es extreme Veränderungen in den letzten zehn Jahren. Wenn ich heute die drei Jahre in Gladbach machen würde, würde ich zwei oder zweieinhalb Mal so viel verdienen, wie damals. Heisst: Ich muss auf das Geld schauen, habe aber auch Investitionen gemacht für später. Zum Beispiel mein Geschäft, das ich zusammen mit meinem Partner habe.

Ihr verkauft Reusch-Torwandhandschuhe?

Genau. WS4Sports – das sind mein Geschäftspartner und ich. Eine Investition von mir – Denn: Ein Teil gehört mir. Das ist die Sache, die sich so in den letzten zehn Jahren entwickelt hat. Mit dem Fussball konnte ich einfach in der damaligen Zeit, also währenddessen, wunderbar leben. 

Du hast dein Geschäft angesprochen. Was machst du genau? Wie sieht dein Tagesablauf aus?

Siehst du ja: Um neun Uhr Tee trinken (lacht).

Würde ich gerne tauschen…

Nicht schlecht, was?

Ja!

Nein, ernsthaft. Wir haben ein Sommer- und ein Wintergeschäft. Das Sommergeschäft beinhaltet Torwarthandschuhe, Torwart-Accessoires, verschiedene Fussbälle, allgemein Fussballzubehör. Über eine englische Firma beziehen wir dazu Merchandising-Artikel von Grossklubs.  Heisst: Chelsea, Barcelona, Real Madrid oder was auch immer. Das ist das Kerngeschäft.

In einem Laden?

Nein. Wir haben kein Laden, sondern Lieferant für die Sportgeschäfte. Also Manor, Ochsner Sport, Athleticum oder Dosenbach. Und: Die Industrie. Man kann keine Produkte bei uns direkt kaufen, sondern muss in einen dieser Geschäfte gehen. Sprich: Wir verkaufen an Geschäfte, nicht an den Endkonsumenten. Ich übernehme etwa 80% in der gesamten Schweiz, wo wir unsere verschiedenen Kollektionen verkaufen, bin aber nur für den Sommer zuständig. Mein Partner übernimmt derweil den Winter und macht die Geschäftsführung. Er ist also im Prinzip mein Chef. Wir sind zwölf Personen in der Firma. Das geht vom Lagerist, über vier Frauen im Innendienst und weitere Angestellte, die wir haben.

Macht es Spass?

Ja, es wird immer besser.

Toll. Schliesslich ist es kein seltenes Phänomen, das wenn man aufhört mit Fussball, Mühe hat in dieses neue Leben zu wechseln.

Das war bei mir genau gleich. Jeder, der was anderes sagt, ist meiner Meinung nach eine Ausnahme. Es ist schwierig sich zu finden. Man stellt sich, da lebt man in einer Welt, wo dir ausser auf dem Fussballplatz alles vorgegeben wird. Du musst nichts selbst entscheiden, alles wird für dich gemacht. Du kommst dann plötzlich in eine Situation, wo du selbst schauen musst. Du musst dich fragen, was du willst oder was du überhaupt kannst. Und das ist extrem schwierig. Ich habe lange gehabt, wirklich lange, bis ich damit klargekommen bin. Man verändert sich kontinuierlich auf dem Weg. Hoffentlich verändert man sich. Die Einstellung, das Gefühl, die Prioritäten werden anders. Fussball war bis dahin alles für mich. Der Fussball hat auch sehr viel ausgeglichen in meinem Leben.

Zum Beispiel auch ihre Scheidung…

Zum Beispiel. Die erste Priorität war einfach immer der Fussball. Und dieser hat sehr viel ausbalanciert.

Ist das etwas, auf das du stolz sein kannst, dass du diesen Weg geschafft hast?

Stolz? Naja. Ich steh jetzt mit beiden Füssen auf diesem neuen Weg und muss jetzt beginnen zu laufen.

Aber vermisst du dabei nicht selbst Fussball zu spielen? Gerade gestern, als du Champions League geschaut hast.

Ich sehe, wie schnell die heutzutage spielen. Juve gegen Real habe ich gesehen. Dieses Tempo…

War ein gutes Spiel, nicht?

Wenn du siehst, mit welcher Präzision, mit welcher Schärfe, mit welcher Athletik die spielen, kannst du froh sein, dass du nicht mehr dabei bist. Natürlich, wenn ich heute spielen würde, passt man sich natürlich an. Aber der Fussball ist für mich einfach eine Geschichte, auf die ich zurückblicken kann. Ich habe sehr viel mitgenommen. Ich habe viel Gutes mitgenommen. Aber auch viel “Scheiss“ mitgenommen. Aber um das geht es schlussendlich. Dass du die Erfahrungen, die du machst, später einmal brauchen kannst.

Man muss die Erfahrungen aber auch richtig verarbeiten können.

Genau. Ich habe auch zu diesen gehört, die nichts gelernt haben. Heute sehe ich aber viele Dinge anders.

Hast du das erst nach deiner Karriere als Torwart gelernt?

Ja. Ich musste ja vorher gar nicht überlegen. Was musste ich mir denn damals überlegen?

Zweimal am Tag Training…

Höchstens. Du hast eine etwas anstrengende Vorbereitung, bist etwas kaputt. Aber ich hatte einen Trainer, der auf mich geschaut hat.

Hans Meyer?

Der hat das alles auf mein Wohlbefinden abgestimmt. Der wusste, wie alt ich bin und hat dann auch gesagt: „Hey, geh zur Massage.“

Du hast einmal gesagt, er sei der beste Trainer, den du je hattest. Dann hat er gesagt, …

…er sei auch der einzige gewesen (lacht).

Was war Hans Meyer für ein Mensch?

Der Hans ist ein wunderbarer Mensch. Wir haben auch jetzt noch Kontakt. Aus dem einfachen Grund, dass wir miteinander nie über Fussball gesprochen haben. Er hat immer gesagt: „Stiel, du bist ein Fussball-Blinder.“ Für ihn hatte der Torwart nicht speziell Ahnung von Fussball. Ob das wirklich wahr ist, weiss ich nicht. Ich sehe schon etwas beim Fussball, aber das tut jeder im Stadion, ist auch gut so. Aber Hans und ich haben uns immer auf einer menschlichen Ebene getroffen. Sicherlich habe ich ihm auch das geboten, was er gebraucht hatte.

Erfahrung und Ruhe, nehme ich an.

Ja. Und auch in der Mannschaft hat das alles sehr schnell funktioniert. Ich habe ihm da etwas gelöst. Auf der einen Seite hat er das, glaube ich, sehr zu schätzen gewusst und auf der anderen Seite habe ich ihn als tollen Mensch schätzen gelernt. Weil er mehr ist, als ein Trainer. Der Mensch dahinter ist fantastisch.

Das war dir wichtig? Das Fussball-Geschäft gilt ja teils als sehr oberflächlich.

Es kommt darauf an, wie man es erlebt.

Ist es also nur ein Klischee, dass Fussball oberflächlich ist?

Wir alle neigen etwas dazu, dass man Dinge fix beurteilt. So ist es oder so ist es. Wir wollen diese Dinge irgendwie greifen können. Ich denke, wer nicht im Fussball-Geschäft war, kann es nicht verstehen. Und wer drin war, der muss auch erst diese Schlüsse daraus ziehen, was dort überhaupt passiert. Das andere ist: Am Montag war ein Freund von mir, ein Ex-Spieler, hier.

Kenne ich ihn?

Max Eberl.

Der Sportdirektor von Borussia Mönchengladbach.

Ja. Ich kenne ihn seit 2001, spielte mit ihm zusammen.

Er hat seither etwas zugenommen.

Ja (lacht). Ich habe noch ein Foto zuhause, als er noch etwas dünner war. Auf jeden Fall haben wir nicht viel über Fussball gesprochen. Das finde ich schlussendlich entscheidend – zumindest für mich.

Also nimmst du aus dem Fussball vor allem Menschliches mit?

Im Endeffekt geht es um das. So unmenschlich wir manchmal sind, wenn wir Dinge nicht sehen, ausblenden oder verdrängen, sind wir auf der anderen Seite auf das angewiesen. Du kannst alles machen – egal welcher Job. Wenn du auf die Person um dich herum nicht eingehst, kommt es nicht gut.

Das ist unabhängig vom Fussball?

Voila! Da ist der Fussball sehr nah am Leben. Wenn du gestern das Spiel geschaut hast. Caceres, dieser Aussenverteidiger,…

…der den Fehler gemacht hat.

Was glaubst du ist in dem vorgegangen? Der wird heute denken: Wie konnte ich nur? Das einzige, was er gemacht hat, ist den Ball in den eigenen Reihen halten wollen. Vidal hat den Ball am gegnerischen Strafraum zurückgespielt. Dann kam Caceres an den Ball und der wollte hinten durch spielen.

Dann fälschte Ronaldo den Ball ab, der dann auf Benzema kam und dieser wieder zurück auf Ronaldo spielte. Tor.

Genau. Und was meinst du, geht in diesem Menschen vor? In dem Moment, wo er den Ball spielt, in dem Moment, wo das Tor passiert und in dem Moment, wo er die Flanke für den Ausgleich gibt.

Eine Achterbahnfahrt der Gefühle.

Meinst du, das ärgert ihn nicht? Qualität ist, wenn man dann gerade steht und nicht daran zerbricht. Das ist menschliche Qualität.

Auch wieder unabhängig vom Fussball.

Richtig. Bei der “normalen“ Arbeit gibt es auch solche Situationen. Und du wirst dir am nächsten Tag auch überlegen, was du da für einen Mist gemacht hast. Schlimm sind nur die, die sich keine Gedanken machen. Und schwierig ist es, wenn man sich deswegen kaputt macht und kein Bein mehr vor das andere bringt. Das kann man im Fussball nicht bringen, während das im Job noch eher geht.

Da kann man noch so viel Talent haben. Stichwort Thomas Broich, von welchem es ein Film gibt. Der ist mit viel Talent ausgestattet, kam aber in der Bundesliga nicht klar und spielt jetzt in Australien.

Thomas Broich, der Doktor, der Professor (lacht).

Ja, er ist etwas speziell. Er habe in der Garderobe Bücher gelesen und hörte immer klassische Musik.

Schau: Ich kann dir ein Bild von mir zeichnen, wo du sagst: Den habe ich aber ganz anders wahrgenommen. Ich kann dir auch ein Bild zeichnen, das du willst. Also: Wie du willst, das ich bin. Ich kann dir aber auch noch ein drittes Bild zeichnen, wo du sagst: Das ist aber noch interessant. Broich hat sich für das erste Bild entschieden. Anders sein.

Hat das kein Platz im Fussball?

Sicher, er lebt es ja. Er ist ein sehr guter Fussballer und hat dann einfach gesagt: Hey wisst ihr was, ich gehe.

Wenn man zufrieden ist.

Was will man mehr? Der Fussball hat ihm eine Chance gegeben. Es ist etwas paradox. Er sagt ja, dieses Drumherum im Fussball interessiere ihn nicht. Gleichzeitig macht er aber einen Film darüber.

Verträgt sich nicht so ganz.

Es ist eine gewisse Diskrepanz vorhanden. Ewald Lienen war als Spieler gegen Star-Kult, hat keine Autogramme gegeben. Als Trainer stand er aber nach den Spielen in den Fankurven. Was ist das, was du sagst und das, was du machst?

Man muss leben, was man sagt?

Damit hat jeder Mühe. Damit habe auch ich meine Mühe. Das ist mit Sicherheit ein riesiges  Thema: Was du gegen aussen bist und was du tust.

Ist das im Fussball noch extremer? Da wird man von der Presse stets an seine eigenen Aussagen erinnert.

Natürlich. Aber im Leben ist es genauso schwierig. Dort wird dich früher oder später das enge Umfeld daran erinnern, was du gesagt hast. Es wir Situationen geben, wo du dastehst und denkst: Scheisse, das war mir nicht bewusst. Solange man niemand damit verletzt, ist es nicht schlimm. Dann geht’s nur um Glaubwürdigkeit. Wenn man aber jemand damit verletzt, sind es Lügen. Das ist ein Unterschied. Darum habe ich gelacht. Ich finde es noch witzig, dass er sagt, er wolle keine Öffentlichkeit, macht aber gleichzeitig einen Film. Das alles ist aber immer ein Reifeprozess. Wichtig ist einfach, dass es ein Prozess ist, dass man sich bewegt.

Ist Fussball auch Entertainment?

Ich denke schon. Man kann dem “Infotainment“ sagen – ein Teil Informationen und der andere Teil Entertainment. Da gibt es ja so viele Geschichten in Deutschland. Man kann ja alles machen. Aus dem einfachen Grund, dass es am nächsten Tag keine Sau mehr interessiert. Man spricht vielleicht noch ein oder zwei Tage darüber. Aber dann kommt schon die nächste Story. Wenn ich in Deutschland in einer Zeitung etwas gesagt habe, ist vielleicht am nächsten Tag der Sportdirektor gekommen und hat gefragt, ob ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe, das könne ich doch nicht machen. Aber am nächsten Tag war die Sache bereits wieder vom Tisch, weil neue Geschichten kamen.

Ist die Medienlandschaft in Deutschland wirklich so extrem?

Ich habe halt keine Probleme gehabt. Ich denke, das hat aber auch damit zu tun, wie ich mit den Journalisten umgegangen bin. Ich habe sie nicht als Feinde gesehen. Und stell dir vor es ist ein Fussballspiel und niemand geht ins Stadion.

Der Fussball lebt also von den Medien?

Es ist sogar ein grosser Teil! Auch für die Wirtschaft und die Politik interessant. In Deutschland hast du ein Dreieck – Wirtschaft, Politik und Fussball. Diese drei Komponenten arbeiten zusammen. In der Schweiz ist das nicht der Fall.

Ist das in Deutschland so viel ausgeprägter?

Wenn ich Borussia Mönchengladbach anschaue, wie die aufgestellt sind. Das ist kein Verein mehr. Das ist eine Unternehmung. Und im Vergleich ist das noch ein eher kleinerer Verein in Deutschland.

Dazu ist das Stadion immer voll. 50‘000 Zuschauer.

Das ist interessant für die Politik. Denn: Schlussendlich sind die Leute, die wählen, im Stadion. Und das ist eine Gegend, wo auch Dortmund, Schalke, Leverkusen, Köln oder auch Düsseldorf spielt.

Hunderttausende, die wöchentlich ins Stadion gehen…

…und die kann man sich zu nutzen machen. In der Schweiz ist der Stellenwert des Fussballs ganz ein anderer.

Hat das nicht auch mit der Grösse des Landes zu tun?

Ich weiss nicht. Die Grösse ist sicherlich nicht ganz unerheblich. Wir Schweizer funktionieren einfach anders. Nicht besser, nicht schlechter – einfach anders. Da muss man sich aber nicht gross Gedanken machen. Man kann es nicht beeinflussen. Einige Regionen funktionieren da besser, einige weniger gut. Der FC Basel ist beispielsweise nachhaltiger, weil sie Titel gewinnen. Durch die Champions League kommt zwar auch Geld hinein, das braucht man aber um das Budget einzuhalten. Schliesslich steigen auch die Löhne, wenn man Champions League spielt und weiter spielen will. Das ist dann ein Kreislauf.

Die Schweiz ist und bleibt also eine Ausbildungsliga?

Ich würde schon sagen. Und das ist auch richtig so. Was muss das Ziel sein von einem Schweizer Verein? Er muss eine gute Basis haben. Sprich: Eine gute Junioren-Abteilung, um die erste Mannschaft mit jungen Spielern zu füttern, die wiederrum verkauft werden. Ergänzt wird der Kader von günstigen Spielern, die im Rahmen der Möglichkeiten sind und einem auch weiterhelfen können. Nehmen wir als Beispiel den FC St. Gallen.

Karanovic, Nater, Janjatovic…

Auch Mutsch.

Ich finde, der macht das hervorragend – auch auf der Sechs.

Genau! Der macht einen super Job. Das wäre so das Gebilde einer Mannschaft. Dann gibt es einen Kreislauf. Junge Spieler in den Kader nehmen, die vielleicht etwas Ausbildungsentschädigung kosten, und dann Spielzeit gewähren. Die werden  interessant für andere Vereine und dann kannst du sie verkaufen. Ein Teil eines solchen Transfers geht dann wieder in die Junioren-Abteilung, um diese weiter zu entwickeln und so ergibt das ein ständiger Kreislauf. Deshalb: Ausbildungsliga? Ja, mit Sicherheit. Für die jungen Spieler ist es eine hervorragende Liga. Man sieht auch immer wieder was möglich ist – oder eben nicht. St. Gallen gegen Valencia. Das ist aber überhaupt kein Problem, das finde ich völlig in Ordnung.

Mich stören diese Leute, die dann sagen: St. Gallen ist schlecht und so weiter. Ist doch schön, dass sie dabei sind, nicht?

Naja, dieses “schön, dass sie dabei sind“ tönt so nach Schweizer.

Ist das der grosse Unterschied zwischen Deutschland und der Schweiz? Die Deutschen sagen: Wir wollen Erster werden! Und die Schweizer sind froh, wenn sie dabei sind.

Genau! Wobei ich finde, dass Saibene das gut formuliert hat. Er sagte: „Wir sind da, um Erfahrungen zu machen.“ Das muss auch das Ziel sein. Wenn St. Gallen jetzt jedes zweite Jahr international spielt, ist das völlig in Ordnung. Jedes Jahr ist schwieriger. Da müsste man den Kader verbreitern.

Und das ist mit Risiko verbunden?

Ja. Da müsste man sich fragen, was will man investieren und was kann man investieren. Wenn man aber als Ziel ausgibt, jedes zweite Jahr Europa League zu spielen, dann ist das okay. Die Champions League ist schon sehr weit weg. Momentan sind sie ja auf Platz fünf und müssen der Dreifachbelastung Tribut zollen. Aber auch das ist okay. Vielleicht wechselt dann einmal ein Spieler, weil er sich woanders eher auf diesem internationelen Parkett präsentieren kann. Aber dann fliesst wieder Geld in die Kassen, wo wir wieder bei diesem Kreislauf sind. Aber ich finde, der FCSG macht das gut.

Gehst jeweils noch ins Stadion?

Nein, ich schaue die Spiele im Fernseher.

Trainer wolltest du nie werden? Wäre ja der klassische Weg nach der Spielerkarriere.

Ich hatte keine Lust jeden Tag auf dem Platz zu stehen. Es hat sich nie ergeben und ist auch kein Bedürfnis. Trotzdem habe ich durch die Firma viel mit Fussball zu tun, arbeite mit jungen Torhütern wie Benjamin Siegrist (U17-Weltmeister, d. Red.) von Aston Villa zusammen. Zwischendurch spiele ich gerne Fussball. Mit den Alt-Internationalen spiele ich ab und an in einem Verein zusammen. Dazu organisieren Andi Egli und Pascal Jenny vom Arosa Tourismus das Turnier in Arosa (inoffizielle Schnee-Fussball-WM mit Grössen wie Freddy Bobic, Michael Reiziger, Lothar Matthäus, sowie hochkarätigen Gästen wie Waldemar Hartmann), was unheimlich Spass macht. Man trinkt eins, spielt ein bisschen und spürt am nächsten Tag seinen Körper, weil man älter wird (lacht). Dazu war ich noch Torwarttrainer.

In Österreich.

Ja. Aber nur ein halbes Jahr. Da trainierten wir zwei Mal in der Woche und ich konnte relativ einfach gutes Geld verdienen. Ich meine aber eher die zweieinhalb Jahre Torwarttraining bei den B-Juniorinnen des FC Au-Berneck. Hat extrem Spass gemacht, kam aber nur zustande, weil meine Tochter dort spielt. Sonst wäre ich dort nicht gelandet, auch nicht auf die Idee gekommen, dort zu landen.

Du machst das, was dir Spass macht?

Ja! Ich hatte wirklich Spass mit diesen zwei Girls. Wir haben bei Adam und Eva angefangen und sind jetzt, wo ich aufgehört habe, nicht mehr bei Adam und Eva. Und im Nachhinein bin ich froh, habe ich nicht den Trainer gemacht.

Wieso?

Ich habe mich nicht in dieser Rolle gesehen. Das wäre mir komisch vorgekommen an der Seitenlinie.

Unser Trainer sagte immer: „Der Torwart und der linke Flügel – das sind “vohrruckti Sieche.“ Stimmt das Klischee?

Ich hatte immer das Gefühl die Leute vor mir sind nicht ganz dicht. Also ich bin der Normale. Ich denke, aufgrund dieses Jobs muss man etwas extrem sein. Das hat sich auch in meinem Privatleben ausgewirkt. Man schwebt immer zwischen super gut und super schlecht.

Wenn man ein Fehler macht und dafür zehn überragende Paraden zeigt, spricht man noch immer vom Fehler.

Richtig! Das macht dich wahrscheinlich auch etwas extrem. Aber dieses Exzessive, das man da teilweise als Torwart im Spiel lebt, wenn es einem selbst nicht auffällt, wie man ist, habe ich mittlerweile gut im Griff.

Hat dieser Zustand bei dir nach 90 Minuten aufgehört?

Nein.

Hast du es also mit nach Hause gebracht?

Nach Hause gebracht habe ich es nicht. Aber ich habe es woanders ausgelebt, auf Partys oder weiss ich was. Aber ich glaube, es hat gebessert (lacht).

Bleiben wir bei den Torhütern. Ter Stegen ist bei Barcelona im Gespräch. Würdest du ihm den Schritt empfehlen oder kommt dieser zu früh?

Was heisst zu früh? Die Frage ist: Wo spielt er? In der Bundesliga spielt er. Marc…

Du kennst ihn?

Ja. In Gladbach ist er einer der Gesichter dieses Teams, dieses Vereins. Er steht für Gladbach. Ich denke, dass diese Erfahrung mit der Verantwortung, die er hat, die er trägt und auch trägen kann, sehr gut für seine Entwicklung. Und man darf nicht vergessen, dass es nur loses Interesse von Barcelona ist. Er hat noch keinen Vertrag auf dem Tisch. Den nächsten Schritt würde ich in zwei Jahren machen. Der ist jetzt 21 und hat schon bald 100 Bundesligaspiele gemacht. Er ist jetzt an einem Punkt, wo er sich positioniert hat, spielt konstant. Jetzt kann er bei Gladbach einen sehr guten Vertrag unterschreiben und seinen Marktwert weiter steigen lassen. Dann müsste jemand eine Ablöse zahlen, dass man sagen muss, den muss ich auch als Nummer Eins spielen lassen. Und zurzeit ist er sowieso ein Held in Gladbach.

Du meinst den verhinderten Abstieg 2011?

Ja. Ich habe ihn bei seinem ersten Bundesligaspiel gesehen gegen Köln – Abstiegskampf. 18 Jahre alt war er. Und diese Selbstverständlichkeit, die er da ausstrahlte, war beeindruckend.

Du sagtest ja auch einmal, dass Zieler, Baumann oder Neuer weniger Ausstrahlung haben als ter Stegen. Mir fallen vor allem Vergleiche zu Oliver Kahn auf. Stimmt das?

Ja, das sagt er ja auch selbst.

Die Kahns und Effenbergs – sind diese Typen am aussterben?

Die ganze Spielkultur hat sich halt verändert. Wer ist vom FC Barcelona ein Typ?

Puyol vielleicht?

Ich sage: Iniesta ist ein Typ, Xavi ist ein Typ. Dass sie nach dem Spiel bei den Interviews nicht auf den Putz hauen und stattdessen über die Mannschaft sprechen, finde ich legitim. Du sprichst von Effenberg. Was hat der gemacht? Der hat einfach die Fresse aufgerissen. Das kann man aber auch in der Kabine machen.

Deutschland gegen Italien – EM-Halbfinale. Man sagt, da hätte es solche Leute aber gebraucht.

Man müsste verschiedene Beispiele haben, um das Vergleichen zu können, ob denn das stimmt. Dazu hat sich der Fussball verändert. Man kann es also nicht sagen. Und: Diese Typen, die gibt es noch. Marc ist einer davon. Dante ebenfalls. Dann gibt es noch diese Vögel wie Arnautovic, wo du nie weisst, was du jetzt kriegst. Auch Diego von Wolfsburg. Manchmal genial, manchmal genial daneben. Es ist auch eine Frage, wie man es ansieht. Wichtig ist, wie es in der Mannschaft intern ist.

Ok.

Aber auch die Presselandschaft hat sich verändert. Da entstehen halt auch Storys. Aber wenn ich höre: Marco Streller und Murat Yakin…

Ja…

Da schläft mir das Gesicht ein. Marco Streller sei sauer, weil er ausgewechselt wurde. Ja hoffentlich ist er sauer. Ein Fussballer will spielen. Und Muri hatte etwas im Kopf, Muri ist Trainer. Der darf das. Dann hört man gestern in der Halbzeitpause bei Real gegen Juve das Interview mit Georg Heitz über die Zukunft von Yakin. Der Heitz sagt dann: „Yakin hat Vertrag.“ Und schon wird spekuliert. Klar, die Medien müssen ja auch etwas machen. Das einfachste wäre gewesen, wenn Koller Nati-Trainer geworden wär. Nun ja, der hat abgesagt, als keiner mehr damit rechnete. Wobei: Wer Marcel kennt, der weiss, dass das passieren konnte.

Ich nehme es ihm nicht übel. Der hat dort etwas aufgebaut, der diesem Projekt seine Handschrift gegeben.

Das ist Marcel. Der hat in seinem Bauch das Gefühl gehabt, dort noch nicht fertig zu sein. Das hat er auch in Bochum gemacht, bis man ihn entlassen hatte. Vier Jahre hat er dort konsequent gearbeitet.

Man sieht ja, wo Bochum jetzt ist (12. Platz in der 2. Bundesliga).

Ja, das meine ich. Vier Jahre mit einer blinden Mannschaft in der Bundesliga zu bleiben, schafft nicht jeder. In St. Gallen wurde er mit einer durchschnittlichen Truppe Meister. Auch mit GC wurde er Meister. Das Problem ist, das er nach Köln ging.

Wie beim HSV, dort wird zu viel geredet.

Overath redet, der redet und dort wird noch gesprochen. Und als er dann Trainer in Österreich wurde haben sich alle beschwert. Prohoska und Polster motzten nur schon, weil er Schweizer ist. Aber in der Bundesliga hat noch keiner von ihnen trainiert. Mittlerweile ist nur noch Polster, der gegen Koller ist. Aber auch nur, weil er wohl selbst Nationaltrainer Österreichs sein will. Marcel Koller ist jetzt dort eine ganz grosse Nummer. Nur war das nicht entscheidend für Marcel. Der will einfach Stück für Stück sein Projekt voran bringen.

Das merkt man ja auch. Man scheiterte eigentlich nur wegen der starken Gruppe an der WM-Qualifikation.

Ja. Und man hat sogar Schweden zu Hause geschlagen. Wann haben die zuletzt Schweden geschlagen? Er sieht dort das Potenzial, das zweifelsohne vorhanden ist. Erst wenn das ausgereizt ist, will er den nächsten Schritt machen. So ist Marcel. Deshalb: Überrascht hat es mich nicht, aber es ist schade für die Schweiz. Er ist ein geiler Typ.

Wer wird es denn jetzt?

Ich weiss nicht. Muri denke ich nicht, das macht kein Sinn. Er soll Vereinstrainer bleiben und seine Erfahrungen machen. Favre auch nicht, der ist bei Gladbach und soll dort auch bleiben. Wer bleibt noch?

Michel Pont?

Wäre eine Variante. Er kennt die Mannschaft. Was mir spontan in den Sinn kam: Ein Holländer. Einer wie van Marwijk. Der ruht in sich, hat Erfahrung, hat Konzept und ist offen für neue Spieler. Die Sprache ist natürlich auch wichtig. Ein Chinese wäre also nicht ideal.   


1 Kommentar:

  1. Gratuliere!
    Ein wirklich lesenswerter Dialog zwischen zwei intelligenten Menschen. Dass dabei der Fussball "die wichtigste Nebensache" der Welt bleibt macht das Interview noch spannender.
    Weiter so

    AntwortenLöschen