Montag, 29. September 2014

Tor!

Gott, dieses Tor. Verdammt noch mal. Dieses Tor.


Es muss kurz vor halb vier Uhr nachmittags gewesen sein. Gerade genehmigte ich mir noch den letzten Schluck meines Biers. Dann begab ich mich in die Bar. Auf den letzten Metern war ich bemüht die Feinheiten dieses wunderbaren Herbsttages aufzusaugen. Ich krempelte hastig meine Hemdärmel nach oben, damit sich die warmen Sonnenstrahlen genussvoll auf meinem Unterarm austoben konnten. Derweil stattete mir ein ungeahnt angenehmes Lüftchen einen Besuch ab und fegte die ersten Schweissperlen von meinem Unterarm. Ich hielt kurz inne und driftete gedanklich ab. Wie schön doch der Herbst ist, sagte ich mir und war mit dem geistigen Auge bereits im OLMA-Festzelt. Die wohligen Träumereien um Bratwurst und Bier fanden aber ein jähes Ende. Die etwa 20 Bar-Besucher kommentierten eine Flanke von Evertons Leighton Baines mit einem sprachlich heillosen Durcheinander aus Verzweiflung („Neiiiiii!“), Hoffnung („Nur no vier Minute!“) und anderen undefinierbaren Lauten, die ihren Ursprung wohl im Alkohol und der Tatsache, dass der Geräuschpegel durchaus beträchtlich war, hatten. Die Flanke fand keinen Abnehmer. Die Suche nach einem geeigneten Sitzplatz erhielt gar nie eine echte Chance. Zu fesselnd die Ausgangslage. Zu dramatisch aussichtsreich die Tatsache, dass Everton beim Stande von 0:1 im prestigeträchtigen Merseyside-Derby gegen die aufstrebenden Liverpooler auf den Ausgleich drückte. Und dies vor The Kop. Der – zumindest erzählt es man sich so – ersten Kurve, die Fangesänge anstimmte. The Kop, welche ihrerseits womöglich schon ins wohlige geistige Auge blickte, in welchem man die Toffees mit You’ll Never Walk Alone in den nur 971 Meter entfernte Goodison Park schickte. Was ich als spannend wahrnahm, dürfte für den Everton-Fan im Pub beinahe ans Unerträgliche gegrenzt haben. Zusammen mit einem ungleich ruhigeren Freund fühlte er jeden Spielzug der Blauen mit. Wobei Spielzug hier ein zu optimistisch formulierter Begriff darstellte. Mehr waren es weite Bälle. Brechstange, wie man im Stammtisch-Fachjargon sagt. Oder wie es die beiden Engländer vielleicht nennen würden: Kick And Rush. „Fuuuuck!“, hallte es beim nächsten weiten Ball – dieses Mal von Innenverteidiger Jagielka – durch die Bar. Und dieses Fuck, das aber durch die herrlich britische Akzentuierung zu einem „Fock“ verkam, wusste sich problemlos gegen den anhaltenden Ansatz von Lärm im Rock Story durchzusetzen.

Doch dann, als 90 Minuten und gut 50 Sekunden gespielt waren, kam der eingewechselte McGeady auf links an den Ball. Einen Meter vor der Strafraumgrenze chippte der Ire das Leder ins Zentrum. 90 Minuten und 55 Sekunden waren da gespielt. Dejan Lovren köpfte die Kugel aus dem Strafraum. 90, 56. Der Ball flog aus dem Strafraum. Und dann kam einer dieser Ereignisse, in denen man sich wünscht, im Stadion zu sein. Nicht zwingend deshalb, um die Atmosphäre zu erleben, um Teil dieses Wunders zu sein, nein. Wäre man im Stadion gewesen, hätte man vielleicht eine leise Vorahnung verspürt, was sich in den nächsten Bruchteilen einer Sekunde abspielen sollte. Man hätte womöglich gesehen, dass Phil Jagielka geistesgegenwärtig den auf sich zukommenden Ball anvisiert hätte und dabei nur wenig Anstalten machte, diesen an einen besser postierten Mitspieler zu übergeben. Man hätte gesehen, dass Jagielka nun anlief, sich anschickte, diesen Ball direkt zu nehmen. Sich anschickte, auf ein Wunder zu hoffen. 90, 57. Jagielka zog ab. Gut 20 Meter müssen das gewesen sein. Und die Welt muss in dieser verflixten Sekunde stillgestanden sein. Kurz bevor der englische Nationalspieler abdrückte, sprang der Ball noch leicht auf. 15, vielleicht 16 Millimeter waren es. Ob das wichtig ist? Und wie! Wären es deren 17, oder gar 18 gewesen, wäre die Kugel über das Stadiondach geflogen. Stattdessen steuerte das Geschoss auf den Kasten von Keeper Mignolet zu und schlug rechts oben ein. Tor! Oder wie es die beiden Engländer nannten: „Foooooock!“

Ein Tor, schöner als jeder Sonnenuntergang. Bewegend in seiner Bedeutung und perfekt in seiner Ausführung. Es muss Gott gewesen sein, der durch dieses Tor zu uns sprach. Nicht nur deshalb, weil ich mich beim Versuch, dieses Tor nachzuahmen zum Sportinvaliden machen würde. Mehr ist es die Tatsache, dass sich selbst die Ronaldos, Messis und Maradonas dieser Fussballwelt verängstigt und weinend in eine Ecke sässen, um gemeinsam das Jonglieren zu üben. Selbst Ibrahimovic hätte da wohl den Tiki-Taka-Querpass bevorzugt. Jagielka tat dies nicht. Im Gegenteil. Er schuf lieber den Urknall 2.0.
Ich weiss nicht, ob es sich um die Wirkung des Biers oder um die unvergleichliche Begleiterscheinung der Gänsehaut handelte, aber ich bin überzeugt, dass mir bei so viel Männlichkeit kurzfristig Barthaare spriessten, wo ich ansonsten nie welche hatte.

Als ich misstrauisch meinen spärlichen Bart befühlte, stampfte ein Mann an mir vorbei. Oliverkahnisch blies er seine Wangen auf, um verärgert wieder auszuatmen. Ich drehte mich um und musterte seinen Rücken. In grossen Lettern prangte der Begriff “FC Liverpool“ auf seinem Rücken. Ich schmunzelte. Während die Wiederholung des Tors abgespielt wurde, klatschten sich die beiden Everton-Anhänger ab und riefen „Common Jags!“. Jags. Jagielka. Torschütze dieses Tores.

Gott!

Gott, dieses Tor.

Verdammt!

Verdammt noch mal.

Dieses Tor.


Fock, war das ein Tor!


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